Nur 24 Minuten überlebte Jamal Khashoggi seinen Besuch am 2. Oktober 2018 im saudischen Generalkonsulat von Istanbul, seine Leiche ist bis heute spurlos verschwunden. Seit einem Jahr lastet das monströse Verbrechen auf dem Ansehen Saudi-Arabiens und seines Kronprinzen Mohammed bin Salman, der bis heute kategorisch abstreitet, von der Bluttat vorab gewusst, sie gar gebilligt oder angeordnet zu haben. Dagegen halten die amerikanische CIA und die UN-Berichterstatterin Agnes Callamard den 34-jährigen Thronfolger und De-Facto-Herrscher für die Schlüsselfigur, weil nur er in der absolut autoritär regierten Monarchie eine derart komplexe und brisante Operation auf fremdem Territorium anordnen kann. Das 15-köpfige Killerkommando hinterließ jede Menge Spuren und ahnte nichts von der lückenlosen türkischen Überwachung. Und so zählen die Hinrichtung Khashoggis hinter verschlossenen Türen und ihre versuchte Vertuschung zu den am besten dokumentierten politischen Morden der Gegenwart.

Die Planung

Ins Rollen kam der Mordkomplott am 28. September 2018, einem Freitag, als Jamal Khashoggi unangemeldet im saudischen Konsulat von Istanbul erschien, um ein Dokument für die bevorstehende Hochzeit mit seiner Verlobten Hatice Cengiz zu beantragen. Der damalige Generalkonsul Mohammed al-Otaibi ließ ihn für den kommenden Dienstag, den 2. Oktober, wieder einbestellen und schickte über das Wochenende zwei Mitarbeiter „in geheimer Mission“ nach Riad zu Saud al-Qahtani, der rechten Hand des Kronprinzen. Das 15-köpfige Todesschwadron, von dem fünf aus dem unmittelbaren Umfeld des Thronfolgers stammten, reiste in Linienmaschinen und einem Privatflugzeug an. Mohammed al-Otaibi buchte für die Agenten ausdrücklich Zimmer mit Meeresblick, um deren Aufenthalt als Touristenbesuch zu tarnen. Den Angestellten des Konsulats befahl er, sich von seinen Büroräumen im zweiten Stock vorerst fernzuhalten, weil eine Kommission aus Riad für zwei bis drei Tage Arbeiten am Fußboden ausführen müsse.

Die Durchführung

„Ist das Opfertier eingetroffen?", scherzten seine Mörder, bevor der 59-jährige Kritiker des Königshauses um 13.15 Uhr das Konsulatsgebäude an der Akasyali-Straße betrat. Er habe noch nie eine warme Leiche zerlegt, aber auch das werde kein Problem sein, beruhigte der saudische Gerichtsmediziner Salah Tubaigy den Chef des Killerkommandos, Maher Mutreb, während beide in ihrem Versteck lauerten. „Ich zertrenne die Gelenke und schneide den Körper in Stücke. Du steckst alles in Plastiksäcke, packst sie in die Koffer und bringst diese nach draußen.“ Wie weiter auf den türkischen Abhörbändern zu hören ist, wurde Khashoggi an der Tür zunächst von einem ihm bekannten Mann freundlich begrüßt. Als dieser ihn in das Büro des Generalkonsuls im zweiten Stock bat, reagierte der Besucher misstrauisch und sträubte sich. Einer der Häscher zerrte ihn mit Gewalt nach oben. Nach einem Wortwechsel betäubte Salah Tubaigy das Opfer mit einer Spritze. „Tut das nicht, ich habe Asthma, ich werde ersticken“, waren dessen letzte Worte. Die Täter stülpten ihm eine Plastiktüte über den Kopf, nach kurzem Todeskampf starb Khashoggi. Um 13.39 Uhr, also 24 Minuten nach dem Betreten des Gebäudes, setzten die Geräusche der Knochensäge ein und dauerten etwa eine halbe Stunde. Danach rief Einsatzleiter Maher Mutreb einen Mitarbeiter im Büro des Kronprinzen an und meldete: „Sag deinem Boss, die Sache ist erledigt“.

Die Vertuschung

Der saudische Königspalast ließ nichts unversucht, um den Staatsmord zu verschleiern und den Verdacht von dem Kronprinzen abzulenken. Zunächst bestritt Riad jedes Wissen über das mysteriöse Verschwinden von Khashoggi und behauptete, der Gesuchte habe das Konsulat kurze Zeit später unbehelligt und lebend verlassen. Und tatsächlich zeichnete eine Überwachungskamera am Nachmittag auf der Rückseite des Gebäudes auf, wie ein Mann in Khashoggis Anzug auf die Straße trat, allerdings mit anderen Schuhen. Unter dem Druck wachsender internationaler Skepsis und gezielt lancierter Berichte in der türkischen Presse folgten dann immer neue Versionen. Plötzlich hieß es, das Ganze sei ein Unfall nach einem spontanen Faustkampf gewesen, dann war von einer aus dem Ruder gelaufenen Entführung die Rede. Zuletzt sprach Riad von einem Komplott selbstherrlicher Geheimdienstler hinter dem Rücken von Mohammed bin Salman.

In Wirklichkeit jedoch reiste nach den Erkenntnissen der UN-Berichterstatterin Agnes Callamard bereits innerhalb von 24 Stunden nach dem Mord ein weiteres Team aus Saudi-Arabien an, um alle Spuren zu vernichten. Die Reinigung des Tatorts sei so professionell und so umfangreich gewesen, dass dies nicht ohne Wissen des Thronfolgers hätte organisiert werden können, urteilte Callamard. Sämtliche Spuren seien extrem gründlich beseitigt worden, so dass türkische Ermittler, nachdem sie 13 Tage später endlich das Gebäude betreten durften, einen praktisch klinisch reinen und teilweise frisch gestrichenen Tatort vorfanden. Obendrein sei im Hof des Konsulats in einem Metallfass ein Feuer gemacht worden, um offenbar belastendes Material zu verbrennen. Für die nationalen saudischen Ermittlungen hat Callamard nur ein vernichtendes Urteil. Sie seien „durch Geheimhaltung vernebelt“. Die Namen der elf Angeklagten seien nicht bekannt. Niemand wisse, was ihnen vorgeworfen werde, obwohl die Staatsanwaltschaft gegen fünf von ihnen die Todesstrafe beantragte. Dagegen sind einige aus dem 15-köpfigen Killerteam von Istanbul offenbar gar nicht im Visier der Justiz. Auch der maßgebliche Vertraute des Kronprinzen, Saud al-Qahtani, ist seit Monaten wie vom Erdboden verschluckt.

Die politischen Folgen

Das internationale Ansehen Saudi-Arabiens hat beträchtlich gelitten, auch wenn US-Präsident Donald Trump den Kronprinzen eisern schützt, und kein Staat der westlichen Welt offen mit dem Königshaus brechen will. Doch ausländische Direktinvestitionen sind stark eingebrochen. Firmen bangen um ihre Reputation, Konzernchefs meiden seit Istanbul die Glitzerkonferenzen der superreichen Wüstennation. Obendrein wächst am Golf die Angst vor einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Iran, während sich im Jemenkrieg auch nach mehr als vier Jahren kein Ende des Blutvergießens abzeichnet. Das innenpolitische Momentum der ehrgeizigen „Vision 2030“ wurde ebenfalls stark gebremst, mit der Mohammed bin Salman Wirtschaft und Gesellschaft seiner Heimat für die Zeit nach dem Öl umbauen will. In den letzten Wochen versuchte der Thronfolger, die Initiative wieder stärker in die Hand zu bekommen.

Die bohrenden Zweifel über seine Rolle in dem Khashoggi-Mord will er durch neue Reformen übertünchen, die im Westen auf Gefallen stoßen. Im August lockerte die Monarchie das patriarchalische Vormundschaftsrecht, so dass saudische Frauen künftig ohne Zustimmung ihrer männlichen Verwandten ins Ausland reisen können. Vor wenigen Tagen kündigte Riad die Ausgabe normaler Touristenvisa an. Erstmals seit der Gründung des Königreiches Saudi-Arabien können sich ausländische Reisende künftig frei im Land bewegen.