Der geschichtsträchtige Ort versteckt sich in einem namenlosen Wald. Kein Schild weist den Weg zur beschaulichen Lichtung. Niemand in der Raststation Arcus an der dicht befahrenen Bécsi Utca (Wiener Straße) zwischen dem österreichischen Grenzort Klingenbach und der ungarischen Universitätsstadt Sopron interessiert sich für den historischen Schauplatz, der nur knapp zehn Gehminuten entfernt liegt. Nichts erinnert hier an die Ereignisse von vor 30 Jahren.

27. Juni 1989, kurz nach Mittag. Ein Konvoi diplomatischer Dienstfahrzeuge und drei Busse mit aus Wien und Budapest angekarrten Journalisten holpert über die Forststraße hinauf zum Grenzzaun: Mobilmachung für einen Moment, der es weltweit in die Medien, später in die Geschichtsbücher und von dort in das kollektive Gedächtnis schafft.

Ungarn fehlte Geld für Zaunreparatur

Als ikonografisches Dokument an das Jahr, in dem der Ostblock implodierte und sich die Welt neu ordnete. Dreißig Jahre später wird der Rückblick zu einem Mix aus kuriosen Anekdoten aus dem Nähkästchen der Weltpolitik, verschwimmenden Erinnerungen, glücklichen Zufällen und nüchterner Normalität.

Ein Gedenkstein erinnert heute an die Stellein einer Waldlichtung bei Sopron, wo vor 30 Jahren der Zaun durchgeschnitten wurde
Ein Gedenkstein erinnert heute an die Stellein einer Waldlichtung bei Sopron, wo vor 30 Jahren der Zaun durchgeschnitten wurde © Höfler

Fakt ist, dass der Abbau der Sperranlagen an der österreichisch-ungarischen Grenze schon im Mai 1989 begonnen hatte. Nicht aus sicherheitspolitischem Kalkül. Vielmehr war der den Westen vom Ostblock trennende Eiserne Vorhang in Ungarn massiv renovierungsbedürftig geworden. Ungarn fehlte für eine Instandsetzung der löchrigen Grenzbefestigung aber das Geld, weshalb man sich für eine – von Moskau geduldete – Demontage entschied. Die Fotos vom Abbau des Stacheldrahts und dem Herausreißen der Zaunpfosten, die der Tiroler Pressefotograf Bernhard Holzner machte, fanden aber nur bescheidenen medialen Widerhall.

Fotograf Bernhard Holzner hatte die Idee für den Fototermin an der Grenze: "Dass das so explodiert..."
Fotograf Bernhard Holzner hatte die Idee für den Fototermin an der Grenze: "Dass das so explodiert..." © HOPI-MEDIA


Holzner ärgerte das. Er schlug dem Pressesprecher des damaligen österreichischen Außenministers Alois Mock, Gerhard Ziegler, einen eigens inszenierten Fototermin an der Grenze vor. „Das können wir machen“, habe Mock geantwortet, erinnert sich Ziegler. Mock verfasste daraufhin eine Einladung an seinen ungarischen Amtskollegen Gyula Horn für ein Arbeitstreffen samt abschließendem Fototermin. Der Brief wurde auf diplomatischen Weg verschlüsselt nach Budapest geschickt. Bis zur Zusage dauerte es, aber sie kam.

Zaun wurde wiederaufgebaut

Allein: Zu diesem Zeitpunkt waren weite Teile des in drei Linien montierten Grenzzauns bereits abgebaut. Man habe an dem für das Foto auserkorenen Ort also kurzerhand 250 Meter Zaun wiederaufgebaut, erinnert sich der damalige ungarische Ministerpräsident Miklós Németh. Tatsächlich wurden noch bestehende Reste „aufgehübscht“, neue Drähte gespannt, Bolzenschneider, Zangen und Arbeitshandschuhe für die prominenten Destrukteure besorgt. Alles war bereit – nur die Sonne nicht: Gegenlicht, das Gift schöner Motive, ließ Fotograf Holzner handeln. „Aus diplomatischen Gründen“ könne er doch nicht auf ungarischem Boden den Zaun durchschneiden, riet er Mock. Kurzerhand wechselte der gesamte Tross die Seite. Bestens ausgeleuchtet konnten die beiden Minister so den Zaun kappen.

Was dann passierte, bezeichnet Pressesprecher Ziegler heute als „medialen Urknall“. „Kein gewiefter Spindoktor hätte so etwas erfinden können“, wundert er sich noch immer: „Die Spannung, die in der Luft lag, hat sich wie ein Blitz entladen.“ Die Kraft der Bilder verlieh der symbolischen Geste erst ihre (welt-)politische Wertigkeit. „Dass das so explodiert, hätte sich niemand träumen lassen“, unterstreicht Fotograf Holzner.

DDR-Bürger zieht es nach Ungarn

Tatsächlich entwickelt sich eine unvorhersehbare Dynamik. Im damals noch geteilten Deutschland sickerten die Bilder vom Abbau der Grenzsperren über westdeutsche Fernsehstationen in die DDR ein. Der Duft der möglichen Freiheit lockt in den Wochen danach noch mehr Ostdeutsche nach Ungarn. Als „Urlaub“ getarnt, bereiten sie ihren Exodus Richtung Westen vor. Ein „Picknick“ auf einer Wiese zwischen Klingenbach und St. Margarethen (siehe unten) wird schließlich zum Tropfen, der den versteinerten Ostblock aushöhlt.
„Der wahre Erfolg von damals ist, dass die offene Grenze für Ungarn und Österreicher heute zur alltäglichen Selbstverständlichkeit gehört“, bilanziert Ziegler.

Hohe EU-Zustimmung

Auch in Klingenbach ist der historische Augenblick von damals im Alltag von heute kein wirkliches Thema mehr. Grenzlage und EU-Perspektive gehören zur Normalität. Vor 25 Jahren, bei der Volksabstimmung über den EU-Beitritt, gab es hier mit 86 Prozent die bezirksweit höchste Zustimmung. „Wir sind noch immer proeuropäisch“, sagt Bürgermeister Richard Frank. 1200 Einwohner, die meisten Arbeitsauspendler, hat der in der sengenden Junisonne dahinbrütende Ort. Direkt vor dem Platz, wo heute das schmucke Gemeindeamt steht, verlief einst die Grenze. Später sorgte ein ungarischer Wachturm, so hoch wie der Mobilfunkmast, der heute den Wald überragt, für eine furchterregende Kulisse. Dann kam die Ostöffnung, mit ihr die Blechlawine und die Grenzkontrollen, die – bevor es die Umfahrung gab – den Ort regelmäßig lahmlegten, erinnert sich Frank am Weg zu jener Wiese, wo vor 30 Jahren das legendäre Paneuropa-Picknick stattfand.

Klingenbachs Bürgermeister Richard Frank beim Monument für das Paneuropäische Picknick bei St. Margarethen direkt an der ungarischen Grenze
Klingenbachs Bürgermeister Richard Frank beim Monument für das Paneuropäische Picknick bei St. Margarethen direkt an der ungarischen Grenze © Höfler

Ursprünglich stand hier auch der anlässlich des EU-Beitritts Ungarns 2004 gestiftete Betonquader, der an die Zaun-Durschneidung erinnert. Erst 2012 wurde der Gedenkstein an den Originalschauplatz transplantiert, nur das Foto vom historischen Akt, das an der Rückseite angebracht war, verschwand.
Heute gibt es dort erstmals einen offiziellen Festakt. Außenminister, Landeshauptmann und die Bürgermeister von Sopron und Klingenbach werden sich treffen. Es wird wieder Fotos geben. Das globale Interesse wird aber überschaubar bleiben. Vor 30 Jahren sorgten die Bilder aus dem Wald dagegen selbst in Übersee für Schlagzeilen – wenn auch seltsamen Inhalts. So berichtete eine Zeitung aus dem US-Bundesstaat New Mexico damals aufgeregt von einem Zusammentreffen des „ungarischen Außenministers Gyula Mock mit seinem australischen Amtskollegen an der gemeinsamen Grenze“ (sic!).