Die deutsche SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles hat ihren Rücktritt von allen Ämtern angekündigt. "Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei haben mir gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist", schrieb Nahles am Sonntag an die SPD-Mitglieder.

Sie werde daher am Montag im Parteivorstand ihren Rücktritt vom Parteivorsitz und am Dienstag in der Bundestagsfraktion auch ihren Rückzug vom Fraktionsvorsitz erklären. "Damit möchte ich die Möglichkeit eröffnen, dass in beiden Funktionen in geordneter Weise die Nachfolge geregelt werden kann", schrieb Nahles. Sie zieht damit die Konsequenz aus innerparteilicher Kritik nach dem SPD-Debakel bei der Europawahl und bei der Bremer Landtagswahl vor einer Woche. SPD-Vize Ralf Stegner sagte der Nachrichtenagentur Reuters, es dürfe jetzt "keine Schnellschüsse oder Handeln aus der Ich-Perspektive geben".

Die Sozialdemokraten hatten bei den jüngsten Wahlen massive Stimmenverluste erlitten. Bei der Europawahl am vergangenen Sonntag erreichte die SPD nur 15,8 Prozent - das war ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei einer deutschlandweiten Abstimmung. Sie landete zudem erstmals als drittstärkste Kraft hinter den Grünen. Zugleich wurde sie bei der Landtagswahl in Bremen zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg nicht stärkste Kraft.Nahles will sich einem Medienbericht zufolge komplett aus der Politik zurückziehen. Neben Partei- und Fraktionsvorsitz wolle sie auch zeitnah ihr Bundestagsmandat niederlegen, berichten die Zeitungen der Funke-Mediengruppe unter Berufung auf Nahles unmittelbares Umfeld. Der genaue Zeitpunkt müsse noch besprochen werden.

Parteichefin war Nahles im April 2018 geworden, nachdem sie eine maßgebliche Rolle dabei gespielt hatte, die SPD gegen große innerparteiliche Widerstände erneut in eine Große Koalition mit der Union zu führen. Die Fraktion leitet sie seit September 2017. In der Bundestagsfraktion war ihr Führungsanspruch bereits vor der Europawahl hinter den Kulissen von einzelnen infrage gestellt worden. Nach den Wahlen am vergangenen Sonntag forderten einzelne Abgeordnete offen, die Führungsfrage zu klären. Nahles hatte daraufhin angekündigt, sie werde die ursprünglich für September geplante Fraktionsvorsitzendenwahl auf den kommenden Dienstag vorziehen. Mögliche Herausforderer hatten sich auch bis zum Sonntag noch nicht gemeldet.

Rätsel um Nachfolge

Nahles rief ihre Partei in ihrer Rücktrittsankündigung zum Zusammenhalt auf. "Bleibt beieinander und handelt besonnen", schrieb sie. "Ich hoffe sehr, dass es euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken und so Personen zu finden, die ihr aus ganzer Kraft unterstützen könnt."

Die Nachfolge von Nahles im Partei- und Fraktionsvorsitz ist offen. Als Herausforderer für die Fraktionsführung war ihr innerparteilicher Kritiker und Vizefraktionschef Achim Post im Gespräch. Auch der Chef der SPD-Linken im Bundestag, Matthias Miersch, könnte im Rennen sein. Er hatte eine Kandidatur nur ausgeschlossen mit dem Hinweis, er werde nicht gegen Nahles antreten. Nach ihrem Rückzug wäre der Weg demnach frei.

Für den Parteivorsitz dürften auch mehrere Personen infrage kommen, unter anderen Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz. Er hatte die Partei übergangsweise Anfang 2018 geführt, nachdem Martin Schulz als SPD-Chef zurückgetreten war. Ambitionen auf den Parteivorsitz werden in der SPD auch der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, nachgesagt. Der Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil, könnte für den Parteivorsitz ebenfalls ins Spiel kommen.

"Gravierende Krise"

Scholz bedauerte den Rücktritt von Nahles. "Das Land und die SPD haben Andrea Nahles viel zu verdanken", sagte der Finanzminister am Sonntag. In schwierigen Zeiten habe sie die Verantwortung übernommen und den Erneuerungsprozess in der Partei begonnen. "Die SPD befindet sich nicht erst seit der Europawahl in einer schwierigen Lage - wichtig ist daher, dass wir zusammenbleiben und die nächsten Schritte gemeinsam gehen", erklärte der stellvertretende SPD-Vorsitzende. Zu seinen möglichen Ambitionen als möglicher Nachfolger von Nahles äußerte sich Scholz nicht.

SPD-Vize Stegner sagte Reuters, die Entscheidung von Nahles habe "allergrößten Respekt" verdient. Der Umgangsstil in der SPD sei nicht vom Grundwert der Solidarität geprägt gewesen. Er sprach von einer "gravierenden Krise". Stegner forderte, dass alle "notwendigen programmatischen, organisatorischen und personellen Weichenstellungen" gemeinsam und "mit größtmöglicher innerparteilicher Demokratie auf den Weg gebracht" werden müssten.

Die engere Parteiführung der SPD tagt am späteren Nachmittag in der Parteizentrale in Berlin. Das Treffen war ohnehin geplant zur Vorbereitung der SPD-Parteivorstandssitzung, die am Montagvormittag beginnt. Der Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), beklagte in einem Tweet schlechten Stil bei den Führungsquerelen seiner Partei. Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Dietmar Bartsch, zollte Nahles Respekt für ihre Entscheidung.

CDU will Koalition fortsetzen

Die CDU will Insidern zufolge die Koalition mit der SPD fortsetzen. In der CDU wurde gemahnt, dass es nun um den Zusammenhalt der Koalition gehe. "Wichtig ist, dass die CDU nun ihre Verantwortung zur Koalition und Regierungsarbeit betont", hieß es in CDU-Parteikreisen. Die Klausurtagung des Bundesvorstandes werde am Sonntag wie geplant stattfinden.

Die Grünen sprachen der abtretenden SPD-Partei und Fraktionschefin ihre Hochachtung aus. "Respekt, dass Andrea Nahles hier eine klare Entscheidung trifft", erklären die Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck. "Wir hoffen, dass die SPD rasch ihre Personalfragen klärt und sich dann mit neuer Kraft auf ihre Aufgaben konzentrieren kann."

Die SPD-Vorsitzenden seit 1946

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Der Posten des deutschen SPD-Vorsitzenden war in der jüngeren Vergangenheit oft ein Schleudersitz - viele Politiker hielten sich nur kurz auf dem Posten. Große Ausnahme der vergangenen Jahre war Sigmar Garbiel, der siebeneinhalb Jahre an der Spitze der Partei stand. Seit 1946 hatte die SPD insgesamt 18 Vorsitzende, darunter drei kommissarische Parteichefs: