Europa beziehungsweise die EU arbeiten sich seit drei Jahren am Thema Migration ab. Die Überforderung ist augenscheinlich. In der politischen Debatte überbietet man sich mit Bedrohungsszenarien und Abschottungsmodellen. Wie nehmen Sie das wahr?
RICHARD DAVID PRECHT: Im Augenblick ist Migration ein tolles Thema, mit dem man auf konservativer Seite punkten kann. Volksparteien schmelzen ab, parallel entstehen immer neue Parteien, als Folge der Mündigkeit der Bürger und des Umstands, dass die Parteien in der Mediendemokratie ihre Haltung verloren haben. Gleichzeitig gibt es aber einen kompletten Mangel an langfristigen Strategien, wo man eigentlich hin will. Es gibt keine vorausschauende Politik mehr. Aber das ist kein österreichisches Phänomen.

Aber in der österreichischen Variante scheint es massenwirksam umgesetzt zu sein: Bundeskanzler Sebastian Kurz wird als neuer „Rockstar“ der Politik durch Europa gereicht.
Absolut. Er ist eine Traumbesetzung für diese Rolle. Ich wüsste nicht, was aus seiner Partei geworden wäre, wenn nicht Kurz aus der Asche gesprungen wäre.

Ist das ein Drehbuch, in dem der Inhalt der Inszenierung folgt?
Es kann sein, dass wir durch diese Phase, in der Politik nur aus Inszenierung besteht, durch müssen um zu einer besseren Politik zu kommen. Wie erleben wie zu Zeiten der ersten industriellen Revolution eine Restaurationszeit. Sebastian Kurz ist der Metternich der heutigen Zeit.

Wird es irgendwann wie einst unter Metternich im Wiener Kongress und einer Neuordnung Europas enden?
Der Wiener Kongress hat 1815 die politische Stagnation eingeleitet, während gleichzeitig ökonomisch alles aus den Fugen ging. Also eine völlige Asymmetrie zwischen dem, was politisch und dem, was ökonomisch passierte. Das könnten wir auch jetzt für eine relativ lange Zeit haben. Die historische Entwicklung von Österreich ist diesbezüglich interessant. Man kann das mit Portugal vergleichen: Beides Länder, die einmal Weltmächte waren und als Regionalmächte endeten. Diese Länder haben eine ganz eigene Form von politischer Kultur, von Sarkasmus und von Melancholie. Und eine Neigung zu trauriger Musik. Gleichzeitig haben sie auch immer wieder die Sehnsucht so groß zu sein, wie sie nie mehr werden. Ich glaube, dass das für Österreich sehr charakteristisch ist.

Gleichzeitig wächst auch hier das Gefühl, von einer uferlosen Migrationswelle bedroht zu sein.
Die Angst, seine Heimat zu verlieren, ist im Augenblick ein riesiges Thema. Aber Heimat ist ja nicht primär durch Migranten bedroht, sondern durch Globalisierung. Migranten sind eine Folge dieser Globalisierung. Man kann nicht eine Globalisierung de luxe bekommen, ohne sich die Schattenseiten davon einzuhandeln. Wenn ich Heimat erhalten will, brauche ich zukunftsfähige Konzepte. Nur die Nostalgie reicht am Ende nicht aus. Wir werden uns in einem viel größeren Maße als bisher um die sogenannte Dritte Welt, um Afrika, kümmern müssen.

Ist Entwicklungszusammenarbeit in ihrer jetzigen Form nicht mehr zukunftsfähig?
Besonders nachhaltig ist sie jedenfalls nicht. Derzeit wird beispielsweise in Afghanistan oder Somalia ein Brunnen gebaut – und wenn die Hilfsorganisationen abgezogen sind, versandet er wieder, wird von der Konkurrenz vergiftet oder es gibt einen Krieg um den Brunnen. Mit derart homöophatischen Mitteln kann man keine wirksame Entwicklungshilfe leisten.

Aber das Gewissen beruhigen.
Das ist aber auch das Einzige.

Was schlagen Sie vor?
Das legitime Bedürfnis der Menschen nach einem Obdach muss gekoppelt werden mit einer wirkungsvollen Strategie, wie ein Land langfristig erhalten werden kann. Europäische Länder sollten sich dafür jeweils ein „afrikanisches Patenkind“ suchen – also ein Land, auf das sie ihre gesamte Entwicklungshilfe konzentrieren, Natürlich dürfen sie dabei nicht als neue Kolonialmacht auftreten, sondern müsste es vielmehr wie ein zusätzliches Bundesland sehen. Es geht um eine Hilfestellung, bei der man nicht nur Geld, sondern auch gute Leute zu Verfügung stellt, die wiederum selbst Menschen vor Ort ausbilden können. Ich wäre auch dafür, dass es zwei soziale Pflichtjahre gibt: eines bevor man zu arbeiten beginnt, das zweite – und viel wichtigere – wenn man aus dem Beruf ausscheidet. Wenn man dann schon ein Verhältnis zu „seinem“ afrikanischen Land hat, wird man auch gerne wieder dorthin zurückkehren und mit seinem Know how und seiner Berufserfahrung helfen. Erst wenn wir das machen, haben wir die Legitimität zu sagen, wir lassen keinen mehr herein. Dann haben wir den Spagat zwischen dem Menschenrechtsidealismus der Linken und dem Heimatschutz der Rechten auf eine Art und Weise gemacht, wie er auch humanitär ist.

Von wem soll ein derartiger Impuls kommen?
Es darf nicht die EU machen, weil in diesem Fall die Österreicher dagegen sein werden, weil sie sich nicht von Brüssel vorschreiben lassen wollen, dass sie sich in Afrika um ein Land zu kümmern haben. Vielmehr muss es eine Idee der Regierung sein. Die jetzige Regierung wäre dafür sehr geeignet, weil die Idee nicht von links kommen darf. Sie muss von den Konservativen kommen.


Es gibt aber Stimmen, die meinen, gerade die rechtskonservativen Regierungen gefährden ein gemeinsames Europa.
Das liegt in der Natur der Sache. Die erste industrielle Revolution hat auch zur Folge gehabt, dass in Europa die Nationalismen ausgebrochen sind – als Folge einer wahnsinnigen Überforderung der Menschen durch die radikale Modernisierung.

Wiederholt sich die Geschichte?
Zumindest in Teilen. Wenn Sie lesen, was Karl Marx über Napoleon III. geschrieben hat, der nach der Revolution 1848 in Frankreich an die Macht kam, dann könnte man glauben, er charakterisiert Donald Trump: Das totale Lächerlichmachen der Politik, jeden Tag Schlagzeilen produzieren, immer irgendetwas Unberechenbares tun, getrieben von nichts anderem als Eitelkeit und persönlichen Geschäftsinteressen, sorgt er dafür, dass er den gesamten Politikbetrieb so blamiert, dass die Würde der Politik verloren geht. Wenn ich mir diese Parallelen ansehe, hoffe ich, das der heutige Umbruch nicht ein Kapitel von 70, 80 oder hundert Jahren wird, bis sich eine gute Gesellschaft durchsetzt, sondern dass wir das in zwanzig Jahren hinkriegen.


Haben Sie Sorge um Europa, konkret um die EU?
Ja, vor allem weil wir die Digitalisierung nicht gemeinsam mit der Energiefrage denken. Wir verbrauchen durch die Digitalisierung immer mehr Strom, der hauptsächlich durch fossile Energieträger hergestellt wird, was die Erderwärmung befeuert, was zu Überschwemmungen oder Versteppungen führt. Zu diesen Verschlechterungen der Agrarbedingungen kommt in diesen Regionen gleichzeitig eine schnell wachsende Bevölkerung. Das Ergebnis werden unfassbare Migrationsströme sein. Da können sie eine Mauer noch so hoch bauen, können noch so viele herunterschießen – sie werden das nicht aufhalten können.

Also ist das, was wir jetzt miterleben und was schon als „Migrationskrise“ etikettiert wird, nur eine Ouvertüre für das, was noch kommt?
Ja, weil die aktuellen Migrationsströme ursprünglich durch einen Krieg ausgelöst wurden und nicht primär durch den Klimawandel.

Wäre ein globaler Krieg eine mögliche Folge?
Unwahrscheinlich ist er nicht. Wir haben keinen Anspruch darauf, dass es in Europa so ruhig weitergeht, wie es in den letzten Jahrzehnten gewesen ist. Das wäre ja merkwürdig und tatsächlich so etwas wie das Ende der Geschichte, wenn es hier nie wieder zu irgendwelchen Umbrüchen kommt. Deswegen finde ich es auch nicht erstaunlich, dass nach so langer Zeit der Ruhe jetzt eine Zeit des Umbruchs anbricht. Aber natürlich habe ich ein vitales Interesse daran, dass es zu keinen Kriegen oder Bürgerkriegen kommt. Was wir jedoch mit Sicherheit sehen werden, sind Ablenkungskriege. Zum Beispiel, dass die USA den Iran angreifen werden als Ablenkung für die enormen strukturellen Probleme, die die USA bekommen.

Was heißt das für Europa?
Wenn man es positiv ausdrückt, ist Trump das letzte Signal für diejenigen, die den Schuss noch nicht gehört haben, dass wir eine eigene europäische Außenpolitik brauchen und sie nicht weiter am Fahrwasser der USA ausrichten können. Das gilt für das Verhältnis zum Iran, zu Russland, zur Türkei. Wir müssen unsere eigene Rolle finden. Das ist besonders schwierig in einem historischen Prozess wie jetzt, in dem wir gerade nicht zusammenwachsen, sondern auseinandertreiben. Aber vielleicht kann Donald Trump aus Versehen auch noch positiv wirken, indem er die Europäer außenpolitisch wieder näher zusammenrücken lässt.

Wenn die europäische Politik diesbezüglich schon nicht die richtigen Antworten liefert: Stellt sie sich zumindest die richtigen Fragen?
Ich erlebe eine totale Orientierungslosigkeit. Die Vorstellung einer europäischen Außenpolitik hat es in Deutschland zuletzt unter Gerhard Schröder gegeben. Sein Motiv war, dass Europa gegenüber Russland andere Interessen hat als die USA. Die USA betreiben mit Russland nahezu gar keinen Handel. Sie brauchen Russland nicht als Freund, aber als Feindbild. Europa dagegen hat ein vitales Interesse, ein gutes Verhältnis zu Russland zu haben. Das bedeutet ja nicht, dass man Putin nicht kritisieren darf beziehungsweise ihn nicht kritisieren muss. Aber an einer Dämonisierung Russlands können wir nicht das geringste Interesse haben. Zudem darf man sich fragen, wie wir es eigentlich fertig bringen, Russland aus moralischen Gründen zu dämonisieren und zu Saudi Arabien freundschaftliche Beziehungen zu pflegen.

In Ihrem aktuellen Buch verwenden Sie den Begriff der Naivität für den Umgang der Politik mit den digitalen Entwicklungen vor allem hinsichtlich der Daten. Was bräuchte es, um diese Naivität abzulegen, außer Erregungen wie beim Facebook-Datenskandal?
Es braucht den Staat, der die Grundrechte absichert. Das ist seine Aufgabe. In der Verfassung, in der europäischen Grundrechte-Charta, ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein Grundrecht. Diese Rolle muss der Staat übernehmen und nicht der Konsument. Der Konsument entscheidet nicht über Grundrechte.

Wird man in diesem Zusammenhang irgendwann dieses schwarz-weiß-Schema zwischen Euphorie und Alarmismus anlegen können? Wird es irgendwann den pragmatischen Mittelweg geben?
Der pragmatische Mittelweg entsteht dann, wenn man positive Ziele formuliert. Also dann, wenn ich jenen Leuten, die sagen, dass alles disruptiv und ganz furchtbar wird und wir in Überwachungsstaaten und der Volksverblödung landen, eine Alternative aufzeigen können. Das ist das erste, was man machen muss: eine alternative Zukunft entwerfen. So gerate ich nicht in der Hysteriker-Ecke, so bin ich nicht derjenige, der als Fortschrittsblockierer auftritt. Das hat nämlich noch nie funktioniert.

In China wird bei der Überwachung der Bevölkerung eine Art Bonus-Malus-System etabliert. Sehen Sie ähnliches auch in unseren Breiten kommen?
Ja, aber eben nicht so öffentlich und offiziell, sondern quasi hinter den Kulissen, indem man alle Verhaltensauffälligkeiten, alle Abnormitäten etc. speichert, clustert und Profile erstellt. Warum sollte der Staat kein Profiling betreiben? Jetzt macht er das vielleicht bei Arabern, warum sollte er das nicht grundsätzlich mit seiner Bevölkerung machen, um auf der sicheren Seite zu sein? In Deutschland wird der Geheimdienst ja nicht ernst zu nehmend kontrolliert. Es gibt einen Ausschuss im Bundestag, der aber keine Ahnung hat. Wer weiß denn schon, was unsere Geheimdienste machen?

Der deutsche Geheimdienst hat jedenfalls den österreichischen überwacht.
Ja (lacht).


Statt Ideologien und großer Volksparteien kommen jetzt also Datendiktaturen?
Die Möglichkeiten dafür sind da. Denn Macht ohne Missbrauch verliert normalerweise ihren Reiz. Warum soll ich also davon ausgehen, dass Profiling nicht irgendwann eingesetzt wird.

Sie stellen in Ihrem Buch eine vordergründig banal-einfache These auf: Sie sagen nämlich, wir haben es selbst in der Hand, etwas zu verändern – auch in der Digitalisierung. Überrascht es Sie, dass man damit für so viel Aufsehen sorgen kann?
Ja, aber das Lebensgefühl der Menschen scheint eben ein anderes zu sein. Sie haben das Gefühl, dass die Digitalisierung wie ein Naturereignis auf sie zukommt. Wie ein Vulkanausbruch, nach dem man nur sagt, jetzt müssen wir uns an die veränderten Temperaturen gewöhnen und anpassen. In der Wirtschaft ist nur noch die Rede davon, dass man Getriebener ist, dass alles schnell gehen muss, dass wir alle mitmachen müssen, dass wir uns anpassen müssen – nie aber davon, dass man gestaltet und gestalten kann.

Was macht das mit uns?
Wir leben in einer Welt, in der nur noch das Gefühl vorherrscht, dass irgendwer den Takt vorgibt und wir immer entsprechend funktionieren müssen, statt einmal zu sagen: ,Nein, ich muss nicht funktionieren, sondern aus den Gegebenheiten etwas sinnvolles für mich machen.’ Das ist eine Perspektive, die offensichtlich verloren gegangen ist.

Wann?
Dass man Zukunft auch gestalten kann, ist in Europa als Perspektive in den 1970er Jahren verloren gegangen. Da war es das letzte Mal, dass man wirklich das Gefühl hatte, die Politik führe uns in eine bessere Zeit.

Und heute?
Natürlich kann man sagen, materiell geht es insgesamt so gut, dass wir gar nicht wahnsinnig viel mehr haben müssen und wenn wir es besser verteilen würden, würden wir eine wunderbare Welt abgeben. Aber im gleichen Maße, in dem dieser Wohlstand erreicht wurde, ist uns die Zukunftsfähigkeit abhanden gekommen. Jetzt diktiert uns ein Zukunftsrhythmus, der eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage ist. Wir sollen plötzlich alles ganz anders machen, wo es doch eigentlich ganz gut ist, wie es ist.