Vom Großteil der internationalen Medienlandschaft unbeachtet veröffentlichte das US-amerikanische Magazin "Foreign Policy" Ende August einen exklusiven Artikel mit "Sprengkraft". Sprengkraft deshalb, weil jüngst deklassifizierten CIA-Dokumenten zufolge die US-Regierung unter Ronald Reagan weit tiefer in den Chemiewaffen-Einsatz Saddam Husseins im Ersten Golfkrieg involviert war, als bisher angenommen. Dem Krieg zwischen 1980 und 1988 fielen, je nach Schätzung, bis zu einer Million Menschen zum Opfer. Halb Westeuropa (darunter auch Österreich) belieferte den irakischen Diktator mit Waffen. Bisher war es ein offenes Geheimnis, dass insbesondere die Regierung der Vereinigten Staaten maßgeblich mithalf, Saddam Hussein mit Geld, diplomatischer Rückendeckung und konventionellen Waffen sowie mit den für eine erfolgreiche Chemiewaffen-Produktion notwendigen Substanzen zu versorgen. Bereits damit gingen die Bemühungen der Reagan-Regierung weit über die menschenrechtsbewusste Waffenverkaufspolitik westlicher Staaten und Rüstungskonzerne hinaus.

Dieses Bild erscheint dank der im August veröffentlichten, neuen Details nunmehr in einem anderen Licht: Es geht nicht mehr "nur" um die Lieferung chemischer Waffen und die lange Zeit wiederholte Behauptung, dass deren Einsatz nicht abgesprochen gewesen sei. Die Regierung Reagan war von Beginn an im Bilde und durch die Nachrichtendienste bestens informiert. Trotz der Warnungen Letzterer ging man vor allem gegen Ende des Krieges weit über die anfangs geplante Kooperation mit Saddam Hussein hinaus. Die Rede ist von so genannten "targeting packages", wie "Foreign Policy" einen früheren Mitarbeiter der NSA (National Security Agency) und DIA (Defense Intelligence Agency) zitiert. Kurz: Maßgeschneiderte, den gezielten Einsatz von konventionellen und C-Waffen erleichternde Feindaufklärungsdaten, die die Qualität der vergleichsweise bescheidenen Aufklärungskapazitäten der irakischen Streitkräfte weit übertrafen. Informationen in puncto Lücken in der iranischen bzw. irakischen Front, Truppenkonzentrationen und mögliche Angriffspläne wurden insbesondere via Satellitenbilder ausgewertet und mit Saddam Hussein geteilt – wohl wissend, dass auf Basis dieser Daten das irakische Militär seine C-Waffen einsetzen würde. Und das tat es auch: immer und immer wieder, mit vollem Wissen und Kooperation durch die Regierung der Vereinigten Staaten. Senfgas, Sarin, Tabun, VX. Das Who is Who chemischer Kampfstoffe.

Szenen wie im Ersten Weltkrieg

Der für das post-revolutionäre Ayatollah-Regime während des Golfkrieges typische Massenangriff, hauptsächlich von Infanteriekräften getragen, stellte für das irakische Artillerie- und Raketenfeuer ein ideales Ziel dar. Tausende starben an den Folgen der mit US-Hilfe wohl platzierten Gasgranaten im Sturmangriff oder in den kilometerlangen Schützengräben der Front. Zehntausende wurden durch diesen massiven Einsatz von Sarin, Tabun und VX-Gas verstümmelt und blieben für ihr Leben gezeichnet. Selbst Zivilisten blieben nicht verschont. Den CIA-Dokumenten ist es zu verdanken, dass das, was bisher nur vermutet, aber nicht bewiesen werden konnte, mittlerweile unbestreitbar ist.

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Aus den Dokumenten geht hervor, dass man sich in Washington darüber klar war, dass der C-Waffen-Einsatz langfristig nicht zu vertuschen war. Blindgänger, die spezifischen Symptome der Verwundeten sowie Fotos und Videoaufnahmen von iranischen Soldaten, die zu Zehntausenden mit ABC-Schutzmasken den Einschlägen der irakischen Gasgranaten harrten, würden auf lange Sicht von der Weltöffentlichkeit nicht unbemerkt bleiben. Den Dokumenten zufolge war der Reagan-Regierung dieses Risiko klar, doch wog die Furcht vor einem möglichen iranischen Sieg schwerer, als das Bekanntwerden der klammheimlichen Unterstützung für den irakischen Diktator.

Im Weltsicherheitsrat (auch damals) nichts Neues

Auf diplomatischer Ebene erfreute sich Saddam Hussein – trotz sich verdichtender Hinweise auf den irakischen Einsatz von C-Waffen – voller Rückendeckung. Erst 1983 von der Liste "terrorunterstützender" Staaten gestrichen (und durch Kuba ersetzt), erhielt das Regime von Jahr zu Jahr mehr Unterstützung. Insbesondere als das Kriegsglück die irakische Truppen zunehmend verließ, und die iranischen Gegenangriffe den "geheimen" US-Verbündeten in Bedrängnis brachten, griff der Diktator immer häufiger auf sein C-Waffen-Arsenal zurück. Just zu jener Zeit, gegen Ende des Krieges 1988, befahl Saddam Hussein mehrmals auch den C-Waffen-Einsatz gegen iranische und kurdische Zivilisten. Die hauptsächlich von Kurden bewohnte Stadt Halabja wurde durch einen solchen Angriff zum Synonym für die Grausamkeit des irakischen Diktators. Eine Grausamkeit, die vor etwa zehn Jahren durch die Befürworter eines Angriffs gegen Saddam Hussein nicht öfter hätte betont werden können. Dass Hussein den Einsatz "chemischer Waffen sogar gegen seine eigene Bevölkerung" anordnete, wurde immer und immer wieder als Totschlagargument aus dem Ärmel gezaubert – dass dies mit Duldung und sogar Unterstützung eines Großteils der westlichen Staatengemeinschaft, insbesondere aber der Vereinigten Staaten erfolgte, wurde verschwiegen. Eine Haltung, die bereits während des Ersten Golfkrieges ihre Tradition begründete.

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Durch C-Waffen verwundete Soldaten wurden erst Mitte der 1980er Jahre ins "misstrauische" Ausland zur Untersuchung geflogen – unter anderem auch nach Österreich. Seit Beginn des Krieges hatte das Ayatollah-Regime versucht, mittels stichhaltiger Beweise die Weltöffentlichkeit und allen voran die UNO vom C-Waffen-Einsatz der irakischen Streitkräfte zu überzeugen. Lange Zeit stieß man auf taube Ohren. Erst nach Jahren wurde die UNO angesichts des nicht mehr bestreitbaren C-Waffen-Einsatzes aktiv. Die Vereinigten Staaten zeigten sich alarmiert und setzten alle diplomatischen Hebel in Bewegung, um eine Verurteilung des einseitigen, irakischen Einsatzes von C-Waffen zu verhindern. Am Ende verpufften die iranischen Bestrebungen in einer zahnlosen Resolution, die beide (!) Seiten dazu ermahnte, vom Gebrauch chemischer Kampfstoffe abzusehen.

Trauriger Höhepunkt der US-amerikanischen Unterstützung war jedoch das letzte Kriegsjahr: Nach dem C-Waffen-Angriff auf Halabja scheiterte eine Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat am Veto der USA. US-Diplomaten gingen sogar so weit, die iranische Armee für das Massaker verantwortlich zu machen. Erst nach Kriegsende zeigte man sich "schockiert" und verurteilte den Giftgasangriff bei dem bis zu 5.000 Menschen umkamen.

Wenn die Chemie nicht stimmt

Eingangs war von "Sprengkraft" die Rede. Leider erhielt der Artikel von Shane Harris und Matthew M. Aid nicht jenes Echo, das er verdient hätte. Gerade zu einer Zeit, als in den Vereinigten Staaten die Rede von Militärschlägen war, der Einsatz von C-Waffen als rote Linie erkoren wurde und man in interventionswilligen Kreisen meinte, dem Einsatz chemischer Waffen gegen Rebellen und Zivilisten nicht einfach tatenlos zusehen zu können, hätten sich diese neuen Informationen eigentlich einer ordentlichen Berichterstattung aufgezwungen. Denn das Beispiel des US-Verhältnisses zu Saddam Hussein zeigt: Zusehen geht sehr wohl. Chemiewaffen liefern geht auch. Beim Zielen helfen? Der Zyniker würde meinen: "Nur wenn die Chemie stimmt", und die stimmt nun mal nicht zwischen Bashar al-Assad und den Vereinigten Staaten. Dabei ist es gerade einmal eine Generation her, als Giftgas-Angriffe gegen Soldaten, Rebellen und Zivilisten für die USA keinen Grund für eine ernsthafte Beziehungskrise darstellten.

Bewältigt man dieses historische "Gefahrengut" nicht, darf man sich nicht wundern, wenn die "Stimme des Westens" in Sachen Demokratie, Menschenrechte und ABC-Waffen in der Region seit Jahrzehnten auf taube Ohren stößt und – gerechtfertigterweise – als Heuchelei abgetan wird. Eine Heuchelei, die auch angesichts des Einsatzes uranabgereicherter Munition und Weißen Phosphors durch US-Streitkräfte während der letzten beiden Irakkriege nicht geschrumpft ist.