Die Politik bereitet Österreich auf einen längeren Lockdown vor, man beruft sich auf Mediziner und die größeren Gefahren, die von einem mutierten Virus ausgehen. Sie haben als Corona-Koordinator viele Maßnahmen schon mitgetragen, bleibt angesichts der Bedrohung durch die Mutationen überhaupt noch Platz für Kritik?
RUDOLF LIKAR: Ja, man muss kritisch bleiben. Vieles, was von der  Regierung gemacht wird, ist richtig.  Aber die Willkür der Zahlen, etwa bei der Inzidenz, ist irreführend. Es werden bisweilen irreale Inzidenzen herangezogen, ohne weitere wichtige Parameter zu berücksichtigen. Zurzeit wird politische Emotion mit Wissenschaft gemischt – das ist keine Lösung. Eine Inzidenz kann nur ein Teil einer Entscheidungsgrundlage sein, es geht darum, wie die Inzidenz mit den Erkrankungen korreliert.

Welche Parameter würden Sie zur Entscheidungsfindung noch miteinbeziehen?
LIKAR: Wie viele Coronakranke liegen auf der Intensivstationen der Spitäler, wie viele Normalbetten sind besetzt? Ich muss viel mehr mit einbeziehen. Dieses Virus verändert, spaltet ja auch die Gesellschaft. Mit der Willkür der Zahlen verstärkt man das. Man muss den Menschen die Sachverhalte besser und logischer erklären.

Die Situation scheint verfahren, Impfstoffe fehlen, der Frust in der Bevölkerung ist hoch. Wie könnte es aus Ihrer Sicht weitergehen?
LIKAR: Bis alle einen Impfstoff erhalten, die ihn wollen, wird es dauern. Die Perspektive kann trotzdem nicht heißen: Inzidenz, Lockdown, Hoffnung irgendwann im Sommer. Sondern: Wie können wir, solange nicht viele geimpft sind, weiter leben? Egal, ob es Freitesten oder Eingangstesten heißt, was bedeutet das eigentlich im Alltag?

Welche Antworten erwarten Sie sich von der Politik?
LIKAR: Vor allem klare. Kann ich ins Theater, muss ich dort trotz Test einen Mundschutz tragen? Es geht darum, für alle Lebensbereiche ein Langzeitprocedere zu entwickeln. Man wird nicht immer alles runterfahren können, das ist ja keine Strategie. Gscheiter wäre es, lokal zu reagieren, etwa wenn eine Region hohe Inzidenzen oder viele Spitalspatienten hat, dann kann man einen lokalen Lockdown in Erwägung ziehen.

Eine Verlängerung des Lockdowns bleibt trotzdem wahrscheinlich – auch aufgrund der gefürchteten Mutationen.
LIKAR: Die Menschen haben heute Angst vor dem Lockdown. Ein dosiertes Aufmachen würde eine dosierte Solidarität wachsen lassen. Der Lockdown verschärft den Egoismus. Schauen Sie sich an, wie es den Menschen geht. Man muss auch das miteinbeziehen.

Ohne Maßnahmen wird uns ein längerer Lockdown nicht erspart bleiben.
LIKAR: Man muss den Leuten auch sagen: Bis zu einem Zeitpunkt gibt es den Lockdown. Die Ungewissheit macht die Leute narrisch. Die Menschen müssen aber auch ihre Eigenverantwortung besser wahrnehmen, es gibt Gebiete etwa in Kärnten, da kann ich die Infizierten-Zahlen nicht glauben. Viele treffen sich ja im Geheimen. Ich plädiere für kontrolliertes Aufmachen und gute Kontrollmechanismen.

Aber die Kontrollwerkzeuge greifen nicht: Bei hohen Infektionszahlen gerät etwa das Contact Tracing an seine Grenzen, in vielen Regionen ist es kollabiert.
LIKAR: Das Contact Tracing muss tatsächlich besser funktionieren als bisher. Das Thema hat die Politik selbst in der Hand. Genauso muss man Tests für alle möglich machen. Nur so kann man die Situation analysieren und kontrollieren. Coronatests gehören jetzt wie das Klopapier zum Haushalt.

Und die Impfstrategie passt aus Ihrer Sicht? Es heißt, obwohl Astra-Zeneca weniger liefern kann, will man so weitermachen. 
LIKAR: Wie soll sich das im ersten Quartal alles ausgehen, etwa dass man viel mehr Altersgruppen bis zu den 65-Jährigen impfen kann?

Die Vorbereitung für die Corona-Impfung wird kritisiert. Welche Versäumnisse sehen Sie?
LIKAR: Wir haben eine medizinische Dreiklassengesellschaft. Die Normalversicherten, die Privatversicherten und die Gruppe, die weiß, an wenn sie sich wenden muss, damit sie eine Leistung bekommt. Bei der Impfung tun wir plötzlich so, als ob das alles nie da gewesen wäre. Man braucht sich nur die Diskussionen um jene Lokalpolitiker oder Promis anschauen, die früher zu einer Impfung – wie auch immer – gekommen sind. Das ist Österreich, das spiegelt die Gesellschaft wider. Es ist scheinheilig, jetzt so zu tun, als ob das alles erst bei der Impfung zum Vorschein käme.

Kommt die FFP2-Maskenpflicht zu spät?
LIKAR: Dass FFP2-Masken effektiv sein können, war schon lange klar. Dass die Pandemie nicht mit 2020 aufhört, auch. Das wusste man, also wäre es für die Politik logisch gewesen, die Produktion zu verstärken, damit wir alle Heime schnell und gut beliefern können. Das ist in mehreren Heimen in Österreich, die ich kenne, nicht der Fall gewesen. Die Politik entwertet sich durch solche Schnitzer unnötig selbst.

Ist die Impfstrategie, zuerst die alten Menschen zu impfen, die einzige aus Ihrer Sicht? 
LIKAR: Einerseits ist es wichtig, die Mortalität in den Altersheimen zu senken. Man hätte aber gleichzeitig die gleichen Altersgruppen, die nicht im Pflegeheim leben, ebenso impfen müssen. Diese Menschen haben auch Kontakte. Das Ganze ist eine gesellschaftliche Ungleichbehandlung, weil man nicht ausreichend Impfstoff organisiert hat. Das war zu wenig durchdacht.

Wer bräuchte die Impfung genauso dringend? 
LIKAR: Wenn ich auf unsere Intensivstationen in Klagenfurt schaue, dann liegen dort vornehmlich 60- bis 80-Jährige, die an Covid-19 erkrankt sind. Diese Altersgruppen wären genauso schützenswert, die bräuchten genauso schnell Impfungen. Und was ist mit dem Gesundheitspersonal? Die Politik hat geglaubt, die Impfung sei die Lösung. Das stimmt ja auch. Aber man hat verabsäumt, dass wesentlich mehr dazugehört.

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