Ein Bild des Friedens und eine Erzählung vom Krieg: Ihre Enkelin Lisa tapst durch das Wohnzimmer in Klosterneuburg und strahlt die Besucher an, während Viktoria Rubanova berichtet, wie sie in Mariupol vor den russischen Bomben um ihr Leben lief. "Mama war ganz in der Nähe, um Wasser zu holen, als die Russen das Theater bombardiert haben. Sie ist sofort in ein Haus gerannt und hat sich dort im Keller versteckt. Drei Stunden lang. Mein Vater dachte, sie sei gestorben", übersetzt ihre Tochter Julia. Wie viele Menschen bei dem Luftangriff am 16. März ums Leben kamen, ist bis heute nicht klar.
Mariupol, die stolze, nun zerstörte Hafenstadt liegt im Oblast Donezk, den Russland jetzt völkerrechtswidrig annektiert hat. Sie war und ist Viktoria Rubanovas Heimatstadt. Vom Beginn des Krieges am 25. Februar bis Ende April waren die Musiklehrerin und ihr Mann Sergej dort gefangen, ehe ihnen die Flucht nach Österreich gelang. "Wir wussten wochenlang nicht, ob Mama und Papa noch leben", sagt Alisa Rubanova (33), die Mutter der kleinen Lisa.

"Kein Wasser, kein Strom, keine Heizung, Bomben fliegen"
Viktoria Rubanova sitzt aufrecht am Wohnzimmertisch, die Hände im Schoß, und erzählt ruhig über diese Zeit der Verzweiflung. Bei den schlimmsten Schilderungen lächelt sie manchmal. Sie weiß wohl, wie fern und fremd die Berichte von Waffen, Trümmern und Hunger an diesem sonnigen Tag in Klosterneuburg scheinen müssen. "Jedes Mal, wenn Mama den Klang von Sirenen und Bomben gehört hat, hat sie sich gefragt, ob sie uns je wieder in die Arme schließen wird können", übersetzt Julia. Die nun zerbombte Wohnung der Familie liegt im Zentrum von Mariupol im fünften Stock eines Hauses.
Dort kämpften Viktoria und Sergej Tag für Tag ums Überleben: "Kein Wasser, kein Strom, keine Heizung, Bomben fliegen", erinnert sich Viktoria Rubanova. Sie mussten Holz suchen, um das Feuer in der Wohnung am Brennen zu halten, über dem sie kochten und das sie wärmte, Wasser holten sie von der nahen Feuerwehr. "Es war gut, dass mein Vater immer so viele Lebensmittel gehortet hat. Sie konnten jeden Tag einmal essen", sagt Julia. Sergej Rubanov ist der große Abwesende am Wohnzimmertisch in Klosterneuburg. Doch dazu später.
Julia und Alisa Rubanova hatten den Kontakt zu ihren Eltern bald verloren. "In der ersten Kriegswoche war Mariupol noch erreichbar. Doch Mama und Papa hatten Corona, es gingen ihnen sehr schlecht, sie konnten nicht reisen. Dann brach der Kontakt ab", erzählt Julia. Die 37-jährige Violinistin und ihr Mann Mikheil Menabde, ein Dirigent aus Georgien, leben mit ihrem Sohn Niko schon lange in Klosterneuburg. In der ersten Kriegswoche flohen Alisa und ihre Tochter Lisa aus Kiew zu ihnen.
"Lisa hat ihren ersten Geburtstag in einem Bombenkeller verbracht. Dann war es eine lange und nervenaufreibende Fahrt bis zur Grenze. Nicht weit von der Autobahn hörte ich Bomben explodieren", erinnert sich Alisa, die wie ihre Schwester als Violinistin arbeitet. Mit ihrem Mann Artem und ihrer Tochter schlug sie sich schließlich an die polnisch-ukrainische Grenze durch. Dort nahm sie der Grazer Jörg Zwicker, ein Musikerkollege, in seinem Auto nach Österreich mit. Artem musste an der Grenze zurückbleiben. Mittlerweile konnte er als Mitglied des Kiewer Sinfonieorchesters ausreisen. Das Orchester hat eine Residenz in Deutschland bekommen.

"Sie haben das ganze Haus durchsucht und geplündert"
In Klosterneuburg galten die Sorgen der Töchter dann vor allem den Eltern: "Wir haben versucht, Freunde und Bekannte in Mariupol zu erreichen, das Internet nach Informationen durchkämmt." Doch es war kaum etwas zu erfahren.
In diesen Wochen spitzte sich die Lage in Mariupol zu. Das Haus, in dem die Rubanovs lebten, wurde von einer Bombe getroffen. Das Paar suchte Schutz im Badezimmer. Als sie sich wieder herauswagten, steckten Bombensplitter in der Tür und der Teil einer Rakete im Klavier.
Als schließlich die russischen Soldaten kamen, trieben sie alle aus ihren Wohnungen, erzählt Viktoria Rubanova: "Sie haben das ganze Haus durchsucht und geplündert." Bei einem Mann fanden sie eine ukrainische Flagge mit einem Schriftzug des Regimentes Asow, sagt sie. "Die Soldaten haben ihn in ein Zimmer gebracht, seine Schreie hat man im ganzen Haus gehört, danach hat den Mann niemand mehr gesehen." Die Soldaten erzählten allen, dass es überall jetzt so aussieht wie in Mariupol: "'Die Ukraine gibt es nicht mehr, ihr gehört jetzt zu Russland', haben sie gesagt. Das Schlimme war, dass du nicht wusstest, ob das stimmt. Du hast keine anderen Informationen bekommen."
Doch für die Rubanovs sollte bald der lange Weg in die Freiheit beginnen: Mitte April sprach Viktoria Rubanova einen Fremden an, der in einem Nachbarhaus wohnte. Er hatte eines der wenigen Handys, mit denen man die Außenwelt erreichen konnte. Nach eineinhalb Monaten hörten die Töchter wieder die Stimme ihrer Mutter: "Wir waren alle so froh." Die Schwestern setzten alles in Bewegung, um ihre Eltern nach Österreich zu holen. Über das Internet fanden sie schließlich einen mutigen Fahrer, der sich nach Mariupol wagte. Er brachte das Paar aus der Stadt. Ende Mai schließlich konnte sich die Rubanovs in Wien endlich wieder in die Arme schließen.

Ihr Vater kehrte in die Ukraine zurück
Doch mittlerweile ist die Familie erneut zerrissen: Sergej Rubanov ist vor zwei Wochen in die Ukraine zurückgekehrt. "Er hat gesagt, er will die Wohnung retten, sich von der Russen nicht das nehmen lassen, was er aufgebaut hat", sagt Julia und schüttelt den Kopf. Im Moment ist ihr Vater bei Bekannten in Kiew, nach Mariupol zu kommen ist schwierig und zu gefährlich. Aus der Stadt bekommen die Rubanovs spärliche Berichte von Bekannten: In manchen Wohnungen gibt es wieder fließendes Wasser, doch keine Heizung, einige Geschäfte haben aufgemacht, doch es gibt wenig zu kaufen, Lebensmittel sind sehr teuer, billig ist nur der Wodka.
Ob Mariupol je wieder frei sein, ob sie je wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren wird? "Ja", sagt Viktoria Rubanova laut auf Deutsch. Es klingt weniger nach Hoffnung, als nach Gewissheit.