Frau Prainsack, die Solidarität im Land hat während der Pandemie gefühlt abgenommen. Die Bilder vom Aufräumen nach den Unwettern legen das Gegenteil nahe. Wie ist es also um die Solidarität im Land bestellt?
BARBARA PRAINSACK:
Ich kann verstehen, dass viele Menschen meinen, die Solidarität habe während der Pandemie gelitten. Grundsätzlich stimmt es aber nicht. Gerade zu Beginn der Pandemie haben sich viele Menschen sehr solidarisch verhalten, das hat mit den anhaltenden Maßnahmen aber wieder nachgelassen. Es war also eine Phase der Überzeichnung. Dem gegenüber stand eine gewisse Ernüchterung. Irgendwann waren bei vielen die Akkus leer, die Mensch-zu-Mensch-Solidarität hat wieder abgenommen. Es gab auch jene, die Einschränkungen als unfair empfunden haben und daraus die Frage für sich abgeleitet haben, warum sie unter diesen Umständen anderen helfen sollten. Da sind natürlich Gräben aufgebrochen. Die von uns durchgeführten Studien haben aber ergeben, dass die Solidarität im Land nicht gesunken ist.

Kaum jemand wird angeben, sich nicht solidarisch zu verhalten, oder?
Sie wären überrascht wie direkt die Menschen sein können. Aber wir haben uns bewusst vertiefend mit den Befragten und auch den Ergebnissen beschäftigt. Wir haben etwa Solidarität mit einzelnen Gruppen abgefragt, mit Arbeitslosen, Kranken oder Menschen mit Behinderung. Hier war und ist die Solidarität groß, hat zum Teil auch zugenommen, weil viele plötzlich selbst oder im Umfeld mit Arbeitslosigkeit konfrontiert waren. Da kann man dann nicht mehr einfach sagen: "Die sind halt faul." Auch das Maskentragen oder Impfen ist für viele Menschen eine Frage der Sorge um andere.

Barbara Prainsack ist Politikwissenschafterin an der Uni Wien und forscht unter anderem zum Thema Solidarität
Barbara Prainsack ist Politikwissenschafterin an der Uni Wien und forscht unter anderem zum Thema Solidarität © Uni Wien

Handelt es sich um Solidarität, wenn ich Familienmitgliedern helfe?
Nein, das wäre fast ein Missbrauch des Begriffs. Hier handeln wir aus Liebe oder Freundschaft. Aber das schlägt auch auf außerfamiliäre Bereiche durch, wirkt empathiebildend. Zugleich verbirgt sich hinter manchem Handeln sehr wohl Solidarität, wo wir es vielleicht gar nicht so nennen würden. Wenn sich ein Impfskeptiker zum Beispiel impfen lässt, damit er dem alleine wohnenden Pensionisten am Ende der Straße weiterhin zur Hand gehen kann. Auch das gibt es.

Dass sich Menschen selbstsüchtig und uneinsichtig verhalten, haben wir aber zur Genüge beobachten können.
Dazu zwei Anmerkungen: Einerseits gibt es diese Menschen natürlich. Unsere Forschung zeigt aber, dass die subjektive Wahrnehmung hier nicht die Realität abbildet und dass diese Menschen in der Minderheit sind. Andererseits ist so ein Verhalten auch der Länge der Krise geschuldet.

Die Hilfsbereitschaft vieler Menschen nach den Unwettern scheint Ihnen recht zu geben.
Ja, ich finde auch. Ich war jedenfalls keineswegs überrascht von dieser Solidarität während einer akuten Krisensituation. Die, die in Österreich sagen "Mir ist alles wurscht", das sind weniger als zehn Prozent.

Wenn man sich einzelne Bereiche unserer Gesellschaft ansieht, bekommt man schon das Gefühl, dass Durchsetzungsvermögen und die richtige Ellbogentechnik erstrebenswerter wären als Mitgefühl und Hilfsbereitschaft.
Einerseits haben auch die liberalsten Einzelkämpfer in der Pandemie feststellen müssen, dass sie vom Verhalten anderer abhängig sind. Wenn sich Einzelne sorglos und egoistisch verhalten, gefährdet das möglicherweise viele andere Menschen. Das ist eine Erkenntnis, die auch das eigene Verhalten zugunsten der Allgemeinheit verändern kann. Andererseits muss man unterscheiden: Bekommen diese Menschen tatsächlich Respekt und Anerkennung, oder eher Aufmerksamkeit?

Sie untersuchen in ihren Studien Menschen aus vielen Ländern. Wie schneiden die Österreicherinnen und Österreicher im Vergleich ab?
Die institutionelle Solidarität, der Sozialstaat, das Gesundheitssystem – hier ist Österreich im internationalen Vergleich nach wie vor im Spitzenfeld. Die Solidarität zwischen Menschen lässt sich nicht so einfach bewerten. Hier lässt sich nicht sagen, ob Österreicher solidarischer sind als Iren oder Spanier. Dafür ist der Solidaritätsbegriff auch zu vielschichtig.

Was ist mit den Regierungen in europäischen Ländern? Dienen diese als Vorbilder in Sachen Solidarität?
Wenn es darum geht, fremden Menschen in Not zu helfen, kann ich sagen: Die Bequemlichkeit ist eine Feindin der Solidarität.