In der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wurde am gestrigen Dienstag ein Fall behandelt, der das Potenzial besäße, den Schutz für von Gewalt bedrohten Frauen und Kindern im Land künftig zu verbessern. Konkret ging es um Vorfälle im Jahr 2012, als Senay K. seinen eigenen Sohn mit einer Faustfeuerwaffe tötete. 

Der Mann hatte den Achtjährigen und seine siebenjährige Schwester am 25. Mai 2012 mit einem Vorwand aus deren Klassen in einer St. Pöltener Volksschule geholt und in die im Keller gelegene Garderobe gelotst. Dort zückte K. die Waffe, die er sich zuvor illegal besorgt hatte, und schoss. Die Tochter konnte flüchten, für den Sohn kam jede Hilfe zu spät. Der Vater flüchtete und erschoss sich später in seinem Auto.

Trennung nicht verkraftet

Dieser Tat gingen - wie so oft - Trennungspläne seiner damaligen Frau voran. Das Tatrisiko in den Tagen vor den tödlichen Schüssen sei immens gewesen, betonte die Anwältin der Frau, Sonja Aziz, im Standard. K. habe seine Familie wiederholt bedroht und wurde auch gewalttätig.  

Doch niemand habe das Leben des Buben damals ausreichend geschützt, etwa durch Inhaftierung des Vaters wegen Tatbegehungsgefahr. Dadurch habe sich die Republik einer Verletzung der Artikel zwei, drei und acht der Europäischen Menschenrechtskonvention – Recht auf Leben, Verbot der Folter, Recht auf Familienleben – schuldig gemacht.

Am Dienstag wurde nun das bereits seit dem Jahr 2019 vorliegende Urteil in der Großen Kammer des EGMR bestätigt: Der Staat Österreich beziehungsweise die handelnden Beamten von Polizei und Justiz hätten ihre Pflicht in ausreichendem Umfang wahrgenommen. Der staatlichen Schutzpflicht sei man nachgekommen.

Recht auf Leben vs. Recht auf Freiheit

Christoph Bezemek, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Uni Graz, erklärt das bestätigte Urteil so: "Man muss derartige Fälle immer aus der Perspektive vor der Tat beurteilen. Im Nachhinein ist man ja immer klüger." Und aus dieser Sicht kam man in Straßburg nun abschließend zu dem Urteil, dass die involvierten Behörden entsprechend ihren Verpflichtungen gehandelt hätten. Gegen den Gewalttäter wurde zuvor schon ein Wohnungsverbot ausgesprochen, man habe ihm den Schlüssel abgenommen und weggewiesen. Zugleich wurde die Frau über ihre Rechte und etwaige Gefahren informiert.

Christoph Bezemek, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Uni Graz
Christoph Bezemek, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Uni Graz © (c) Sissi Furgler Fotografie

"Natürlich kann man nun sagen, man hätte den Vater von der Tat abhalten müssen", sagt Bezemek. "Aber der EGMR muss hier das Recht auf Leben auf der einen Seite und das Recht auf Freiheit auf der anderen Seite berücksichtigen - Artikel fünf der Europäischen Menschenrechtskonvention." Andernfalls müsse man Maßnahmen wie die Präventivhaft diskutieren. Hier wird es politisch.

Dem Vernehmen nach beschäftigte sich die Große Kammer des EGMR zum ersten Mal mit einem Fall schwerer Gewalt in Beziehungen. Nur zehn der siebzehn befassten Richter bestätigte das Urteil. Einigkeit sieht anders aus.

Diese Spaltung fiel auch Bezemek auf. "Man kann etwa darüber diskutieren, ob man die häusliche Sphäre zu eng denkt", denkt der Menschenrechtsexperte an. Im gegenständlichen Fall war das der Fall, der Vater hatte die Kinder ja aus der Schule geholt. 

Kann man die EGMR-Entscheidung also als vertane Chance in Sachen Gewaltprävention oder Opferschutz bezeichnen? "Wäre das Urteil nicht bestätigt worden, hätte es wohl eine breitere Debatte darüber gegeben, wie man gefährdete Menschen in Beziehungen besser schützen kann", sagt Bezemek. "Aber auch der beste Grundrechtsschutz wird uns zwischenmenschliche Tragödien nicht ganz ersparen können."