Wo ist die Grenze zwischen legitimer Kritik, beispielsweise an den Maßnahmen der Regierung, und Verschwörungstheorien?

ULRIKE SCHIESSER: Bei Verschwörungstheorien wird Inkompetenz der Verantwortlichen oder gar Zufall ausgeschlossen. Verschwörungstheoretiker glauben, hinter allem steckt ein Plan und eine bösartige Macht. Es ist alles miteinander verbunden. Im Hinblick auf die Corona-Maßnahmen glauben sie, dass im Hintergrund alles abgesprochen ist: Regierung, Justiz und Exekutive werden kontrolliert von einer geheimen Gemeinschaft. Letzten Endes geht es darum: Handeln die politischen Akteure nach bestem Wissen und Gewissen, auch wenn Fehler passieren?

Wer steckt laut Verschwörungstheoretikern hinter so einer Gemeinschaft?

Das sind oft sehr kleine Gruppen, etwa reiche Menschen wie Bill Gates. Letztendlich sind es im Kern oft antisemitische Theorien. Der Rothschild-Clan oder George Soros oder die Banken sollen schuld sein. Wobei Letzteres meistens synonym für Juden gebraucht wird.

Auch Impfskeptiker werden oft mit Verschwörungstheoretikern in eine Schublade gesteckt.

Skepsis und Kritik an der Impfung sind grundsätzlich legitim. Dem Impfstoff und den Herstellern nicht zu vertrauen, dass einem alles zu schnell geht, oder man Geschäftemacherei vermutet, ist noch weit entfernt von einer Verschwörungstheorie. Ein weitverbreiteter Mythos ist etwa, dass die ganze Pandemie absichtlich ausgelöst wurde, um uns mit vorbereiteten Mikrochips zu impfen, um uns besser lenkbar und kontrollierbar oder etwa unfruchtbar zu machen. Es besteht ein Unterschied zwischen dem Äußern von Bedenken und dem Glauben hinter all dem steckt ein weltumspannender, durchdachter Plan. Meistens stammt die Impfskepsis aber aus Quellen der Verschwörungsmythen. 

Viele Videos, die auf Youtube oder sozialen Medien über Verschwörungstheorien kursieren, sind sachlich, gut aufbereitet und können recht überzeugend sein. Wie kann man mit Familienmitgliedern, die solche Theorien dann weiterverbreiten, umgehen?

Man muss hier differenzieren. Habe ich es mit Leuten zu tun, die gerade frisch in dieses Thema hineingestolpert sind und noch hinterfragen, ob das wirklich stimmen kann? In diesem Fall könnte man sich gemeinsam hinsetzen und schauen: Wo kommen diese Informationen eigentlich her, wer verbreitet das und was weiß ich über diese Personen? Es gibt mittlerweile viele gute Faktenchecker-Seiten im Internet, etwa Mimikama oder correctiv.org, die auch sehr schnell reagieren und professionell arbeiten. Man muss auf jeden Fall ansprechen, wenn man etwas für eine Verschwörungstheorie hält und mit Argumenten und Fakten sofort dagegen steuern.

Und wenn jemand schon voll und ganz überzeugt ist?

In solchen Fällen hat es wenig Sinn, weiterhin die Fakten zu diskutieren, da man mit Argumenten an überzeugten Verschwörungstheoretikern abrutscht, wie an einer Glaswand. Diese Diskussionen können sogar den Glauben beim Gegenüber verstärken.  Hier wäre wichtiger, auf einer persönlichen Ebene miteinander zu sprechen und festzustellen, warum gerade diese Personen von jener Verschwörungstheorie so fasziniert ist. Ist sie gestresst, verängstigt oder verunsichert, kann man das auch ansprechen. Sind es Personen, die in diesem Kontext wirklich aufgehen und alle belehren wollen, ist es oft ein Bedürfnis nach Anerkennung. Das sind oft auch idealistische und politische interessierte Menschen, denen bestimmte Werte wie Freiheit oder kritisches Denken sehr wichtig sind und die gerne mal gegen den Strom schwimmen.

Einige Verschwörungstheoretiker outen sich auch als sehr gläubig. Gibt es eine Verbindung zwischen Religion und Verschwörungsmythen?

Auch Religionen versuchen, die Welt zu erklären und anhand bestimmter Mythen eine Geschichte zu erzählen. Wir suchen gerne nach Mustern, die ein sinnschaffendes Ganzes erzeugen. Die Geschichte zeigt, dass auch im Namen der Religion viel Leid passiert ist. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass Religionen Angst reduzieren wollen, während Verschwörungsmythen Angst erzeugen. Sie sind darauf aus, ein System zu bekämpfen und gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, einen dämonisierten Feind, aufzuhetzen. Es fehlen aber die positiven Aspekte, die Religionen sehr wohl mit sich bringen. Zum Beispiel ethische Werte, Trost und Hoffnung in schweren Zeiten und im Angesicht des Todes.

Das Internet ist ein Brandherd für Falschinformationen.

Früher war es schwieriger Informationen zu überprüfen. Das Wort des Herrschenden galt als Wahrheit. Die Vielfalt an Informationsquellen im Internet stellt eine neue Herausforderung dar. Der Influencer bekommt die gleiche Chance auf Aufmerksamkeit wie der Wissenschaftler. Letztendlich lautet die eigentliche Frage: Wem vertrauen wir? Ich weiß eigentlich nicht wie mein Auto genau funktioniert, aber ich vertraue auf die Ingenieure. Ähnliches gilt für die Impfung. Es kommt nur darauf an, ob ich Vertrauen in die Forschung, an Hersteller und jene, die zu Impfungen raten habe.

Ist es für uns heutzutage schwieriger in etwas zu vertrauen, weil es mehr Möglichkeiten gibt, in die ich vertrauen kann?

Natürlich. Früher hatte man mit hohem Status automatisch recht. Das ist heute freilich nicht mehr so und auch eine Entwicklung, die wir uns gewünscht haben: kritisch denkende Menschen. Als großes Problem sehe ich, dass sich unseriöse und seriöse Quellen nicht mehr anhand der Präsentation und Aufbereitung von Informationen unterscheiden lassen. Oft greifen die Leute dann auf unseriöse Quellen zurück, weil sie leichter verständlich sind und die Menschen in ihrer Lebensrealität besser abholen. Sobald mir jemand sympathisch ist, glaube und vertraue ich dieser Person auch leichter.

Die Fronten der „Corona-Rebellen“ und der „Corona-Anhänger“ werfen sich gegenseitig immer wieder ähnliche Argumente an den Kopf. Die jeweils andere Seite seien Spinner und verrückt. Wie lässt sich das erklären?

Sie verwenden den Begriff „Rebellen“ und das zeigt schon die psychologische Strategie. Es werden bestimmte Begriffe besetzt, die als positiv angesehen werden können. Rebellen kämpfen wie Robin Hood für die Armen. Auch der Begriff des Skeptikers wird umbesetzt. Früher waren das Menschen, die zum Beispiel Scharlatane oder Esoteriker enttarnen wollten. Heute sind teilweise diese Esoteriker die Impfskeptiker.

Ulrike Schiesser erkennt ganz klare Grenzen zwischen legitimer Kritik und Verschwörungsmythen
Ulrike Schiesser erkennt ganz klare Grenzen zwischen legitimer Kritik und Verschwörungsmythen © Privat

Es handelt sich bei der „Anti-Corona“-Bewegung um eine sehr heterogene Gruppe quer durch alle sozialen Schichten und politischen Richtungen. Verschwörungsschwurbler treten neben Menschen auf, die einfach nur unzufrieden sind oder Angst haben. Wie soll man jetzt mit dieser Bewegung umgehen?

Die Antwort auf diese Frage ist sehr vielschichtig. Grundsätzlich gibt es natürlich das Recht, zu demonstrieren und protestieren und der Gesellschaft etwaige Missstände mitzuteilen. In einer Demokratie muss man das aushalten, auch wenn Meinungen, für die demonstriert wird, mir nicht behagen. Im Hinblick auf die vielen Freiheitseinschränkungen, die wir alle gerade erfahren, verstehe ich auch jene, die sagen: Jetzt müssen wir dem Staat ganz genau auf die Finger schauen.

Andererseits muss man genau beobachten, wer einen Gewinn aus dieser Bewegung zieht. Und das sind oft rechte und rechtsextreme Gruppierungen, wissenschafts- und staatsfeindliche Bewegungen und Menschen, die Spaltung und Hetze betreiben. Die zunehmende Gewaltbereitschaft, zum Beispiel gegen Medienvertreter, muss uns Sorgen bereiten.

Wo hört also die berechtigte Kritik auf?

Beim Einsatz von Gewalt, auch verbaler. Und wenn sie der Corona-Verbreitung dienen.