Herr Kerbl, was befürchten Sie und Ihre Kollegen bei noch länger geschlossenen Schulen?
REINHOLD KERBL: Die Folgen sind mannigfaltig; Verschlechterungen bei Essstörungen – also Anorexie und Adipositas. Daneben sprechen wir von Schlafstörungen und Angststörungen (auch durch Schulversagensängste) und Depressionen wegen des Verlustes der Tagesstruktur und sozialer Kontakte.

Welche Altersstufen leiden besonders unter "Home Learning"?
KERBL: Betroffen sind alle Altersgruppen. Je länger Schulabsenz dauert, umso mehr. Bei Jugendlichen gibt es außerdem sehr hohe Anforderungen im Fernunterricht. Dass bis zu acht Stunden vor Bildschirmen verbracht werden, ist bedenklich.

Reinhold Kerbl, Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche am LKH Hochsteiermark, Standort Leoben
Reinhold Kerbl, Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche am LKH Hochsteiermark, Standort Leoben © APA/Herbert Neubauer

Für welche Schüler ist Fernunterricht am ehesten verkraftbar?
KERBL: "Technisch" am ehesten für Jugendliche, sie können mit PC und Co. "umgehen" – allerdings mit der in der vorigen Antwort genannten Problematik. Für Volksschüler ist praktisch immer die Unterstützung eines Erwachsenen notwendig. Dies ist für Eltern teilweise sehr belastend – abhängig auch von deren eigenem Bildungsstand. Mehrkindfamilien und sozial Benachteiligte werden durch Distanzunterricht zusätzlich benachteiligt, die soziale Kluft wächst so weiter. Im Gegensatz dazu kommen sozial Bevorzugte naturgemäß besser zurecht.

Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde sagt: "Unter Einhaltung entsprechender Maßnahmen (keine Durchmischung zwischen den Klassen, Abstandhalten, Maskentragen, Lüften etc.) wurden Übertragungen innerhalb der Einrichtungen nur in sehr geringem Ausmaß beobachtet." Wie viel Restrisiko birgt Präsenzbetrieb?
KERBL: Ein Restrisiko ist naturgemäß nirgendwo ausschließbar. Es ist aber mittlerweile klar, dass Kinder keinesfalls öfter Virusträger sind als Erwachsene, sehr häufig asymptomatisch bleiben und die Transmissionsrate bei Asymptomatischen ohne Husten und ohne katarrhalische Symptome deutlich geringer ist als bei Symptomatischen. "Superspreader" kommen im Kindesalter so gut wie nicht vor. Diese Angaben gelten nach neue Erkenntnissen übrigens auch für die (in Österreich bisher kaum nachgewiesene) Mutation B.1.1.7. Ich halte es für ein taugliches "Mittel zum Zweck", die Schulen offen zu halten.