Herr Professor, Sie haben in Wien studiert und gelehrt. Sie waren Imam in Ottakring. Was ging Ihnen durch den Kopf oder durchs Herz, als Sie vom Anschlag erfuhren?
MOUHANAD KHORCHIDE: Ich saß in Münster an meinem Schreibtisch. Ich war entsetzt. Als jemand, der sich seit Jahren mit dem Thema Radikalisierung befasst, muss man sagen: Es war eine Frage der Zeit. Der Terror bedroht uns alle in Europa.

Österreich hat sich immer als neutrales Land betrachtet, das ungefährdet und von allen gemocht durch die Zeiten geht. Dieses Bild ist zerstört. Warum Wien?
Wien hat Symbolik. Wien ist die Mitte Europas, das Herz. Mit Wien sollte ganz Europa getroffen werden. Die Botschaft war, wir wollen euch alle verunsichern. Wir wollen, dass Europa nicht mehr ruhig schlafen geht.



Zum Abgründigen der Tat gehört, dass das jüngste Opfer dieselbe Herkunftsgeschichte wie der Täter hatte. Dieselbe Gegend. Wie absurd ist das?
Gar nicht. Es zeigt, dass es hier nicht um die Grenze zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen geht, sondern zwischen Extremisten und menschenfeindlichen Ideologien auf der einen Seite und friedliebenden Menschen, Weltanschauungen und Religionen auf der anderen.

Was wird das Attentat mit Wien und dem Lebensgefühl der Stadt machen?
Es wird noch mehr Menschen in ihrem Gefühl dem Islam gegenüber verunsichern. Das war das Ziel. Umso wichtiger ist es, dass Muslime klare Zeichen der Abgrenzung nach außen setzen. Ich würde mir auch von der Politik ein schärferes, wacheres Bewusstsein wünschen, was die Gefahr des Terrors betrifft. Dass man klare Kante zeigt.

Am Wochenende wurden erste Moscheen in Wien gesperrt, wo der Täter ein und aus ging.
Das war überfällig. Warum hat man gewartet, bis so was passiert? Moscheen zu schließen, in denen junge Menschen radikalisiert werden: Das muss doch ohne Pauschalverdacht eine Selbstverständlichkeit sein. Auch aufseiten der islamischen Glaubensgemeinschaft: dass man genau hinschaut und der Polizei meldet, wo es Moscheen mit Problemen gibt. Wir haben sehr lange weggeschaut.

Die Verurteilung des Geschehenen durch Verbände reicht nicht?
Definitiv nicht. Ich sehe diesen jungen Menschen als ein Endglied einer langen Kette. Sie fängt an mit einer menschenfeindlichen Ideologie. Mit einer Feindlichkeit gegenüber dem Westen, gegenüber Europa und seinen Regierungen. Hier das Opfer, dort der Feind. Man kennt das von Erdoan. Immerzu stellt er die Muslime als Opfer des Westens dar. Und wenn diese Rhetorik einsickert bei den Jungen, dann werden die Gesellschaften, in denen sie aufwachsen, irgendwann zur feindlichen Gegenwelt.

Wie ließe sich der Kreislauf durchbrechen?
Die Glaubensverbände müssen hier eine Intervention setzen. Es geht nicht an, dass man nach außen sagt, wir distanzieren uns von Gewaltstellen im Koran, und gleichzeitig lehnen wir moderne Lesarten ab und bekämpfen jede Reform. Ich persönlich werde von den Glaubensgemeinschaften immer wieder angegriffen, weil sie meinen, ich sei ein Ketzer, der ein Islambild habe, das nicht zu uns passt. Aber wie will man ernsthaft Gewalt bekämpfen, wenn man darauf beharrt, den Koran wortwörtlich leben zu wollen, ohne historisch-kritischen Blick?

War es ein Fehler, den späteren Attentäter vorzeitig aus der Haft zu entlassen?
Ich habe das so verstanden, dass er deshalb frühzeitig entlassen wurde, damit er unter Beobachtung bleibt und unter strengen Auflagen in ein Programm kommt. Offensichtlich hat es da in der Kommunikation zwischen den Behörden schwere Mängel gegeben. Das gehört professionalisiert, damit so etwas nie wieder vorkommt. Ich möchte die Programme zur Deradikalisierung nicht pauschal abwerten. Sie sind auch dort notwendig, wo Gefährder ihre normale Haftstrafe verbüßt haben. Der Täter hat uns alle getäuscht, nicht nur den Staat.

Ist es nicht naiv zu glauben, ein fanatisierter IS-Sympathisant könne als Häftling in wenigen Monaten entgiftet werden?
Natürlich ist es naiv. Dass einer seine Haft abgesessen hat, heißt nicht, dass er deradikalisiert wurde. Wir wissen heute, dass gerade Gefängnisse Orte der Radikalisierung sein können. Dringlicher als schnelle Schuldzuweisungen wäre eine ordentliche, ernsthafte Prävention, wo man nicht zuwartet, bis was passiert. Man muss die jungen Menschen davor erreichen, und das geht nur im Zusammenwirken mit Moscheegemeinden. Sie haben eine Schlüsselrolle.

Worauf käme es an?
Der Verfassungsschutz soll die Gefährder beobachten. Aufgabe der Glaubensgemeinschaften wäre es, solche jungen Menschen, die das Gefühl haben, in der Gesellschaft marginalisiert zu sein, davon abzuhalten, dass sie im Islam selbst, in der Theologie ein Ventil finden, um zu sagen: Jetzt kann ich meinem Frust auf die Gesellschaft im Namen der Religion freien Lauf lassen. Da brauchen wir endlich einen offenen Diskurs über ein neues Islambild, über einen Islam, der zu Mündigkeit erzieht, zu loyalen Bürgern. Es reicht nicht, Demokratiebildung nur in der Schule zu betreiben, sie muss selbstverständlicher Teil der Jugendarbeit in den Moscheegemeinden sein.

Aber die Verbände beteuern doch ohnehin, es gäbe keine Diskrepanz zwischen dem Islam und den Werten der Demokratie.
Diese Beteuerungen bleiben eine Floskel, wenn gleichzeitig gesagt wird, Ungläubige oder Andersgläubige seien unrein. Das ist eine feindselig aufgeladene Kommunikation. Und die führt bei manchen Jugendlichen eben zu Gewalt. Wir müssen in die Details hinein. Wir dürfen uns nicht nur mit schönen Statements begnügen.

Wo ansetzen?
An der Ideologie des politischen Islam. Sie liegt unter der Tat-Ebene. Sie distanziert sich von Gewalt, ist aber genauso eine antieuropäische Ideologie, die im Westen eine Art postkoloniale Macht sieht, die die Muslime benachteilige. So spaltet dieser politische Islam unsere Gesellschaft in Muslime, die Opfer sind, und in die anderen, die Mehrheitsgesellschaft, die die Täter sind, Feindbilder. Und genau in diesem Punkt treffen sich beide: die extremistische Ideologie barbarischer Gewalt mit der Ideologie des politischen Islam. Deshalb gehören beide gleichermaßen bekämpft.

Als Sie vor Jahren als Wiener Doktorand eine Studie über antidemokratische Tendenzen unter islamischen Religionslehrern verfassten, hat man Sie als Nestbeschmutzer geschmäht und aus der Stadt vertrieben. Wie willkommen sind Sie heute?
Wien bleibt meine Stadt. Ich habe bis heute nirgendwo sonst Urlaub gemacht. Viele junge Muslime erkennen mich auf der Straße und sind dankbar, dass ich für ein aufgeklärtes Islambild kämpfe. Sie suchen einen Zugang zum Glauben jenseits von Angst und schwarzer Pädagogik. Und dann gibt es Traditionalisten in der Stadt, die mich innerislamisch verleumden. Ich sei der, der in der Dokumentationsstelle mitarbeite und gegen alle Moslems sei. Der politische Islam fühlt sich bedroht durch meine Arbeit. Das gibt mir Mut, nicht aufzuhören. Ich werde diesen Kampf nie beenden. Bis wir eine friedliche Gesellschaft haben, in der Muslime und Nicht-Muslime ein großes europäisches Wir bilden. Das ist mein Lebensinhalt.

Hat sich am Befund Ihrer Studie in all den Jahren etwas geändert?
Leider nein. Alle Muslime, die sich kritisch äußern, bekommen früher oder später Morddrohungen. Mir geht es in Münster nicht anders. In der Wohnung bin ich umgeben von Überwachungsapparaten. Unten vor dem Haus steht ein Polizeiauto. Reform bedeutet, die Dinge kritisch zu hinterfragen. Ohne Kritik, ohne Selbstkritik kann man nicht nach vorne gehen.

Was an Wien vermissen Sie?
Den friedlichen, schwerelosen Menschenstrom in der Kärntner Straße. Dieses Bild der Innenstadt mit den Flaneuren aus allen Ecken der Welt. Man braucht nur eine Viertelstunde die Straße vom Anfang bis zum Ende spazieren zu gehen, und man hat die ganze Welt. Als hätte man eine Weltreise gemacht. Wenn ich mit dem Flughafenbus in die Stadt fahre, steige ich am Schwedenplatz aus, und bevor ich irgendwohin gehe, mache ich diesen Rundgang in der Kärntner Straße. Dann hab ich das Gefühl, ich bin Bürger einer Weltgemeinschaft.