Sie waren an der Masern-Impfpflicht in Deutschland beteiligt. Treten Sie auch für eine Corona-Impfpflicht ein, die in Österreich gerade diskutiert wird?

FRANK ULRICH MONTGOMERY: Ja, vorausgesetzt, es gibt eine nachgewiesen wirksame und ungefährliche Impfung – das ist heute noch nicht der Fall. Impfen hat zwei Schutzfunktionen. Erstens schützt die Impfung mich selber, das kann jeder für sich individuell entscheiden. Zweitens schützt sie aber auch alle anderen, weil es Menschen gibt, die man nicht impfen kann. Sei es aus medizinischen oder Altersgründen. Diese Menschen kann ich kollektiv nur schützen, indem alle anderen geimpft und immun sind. Deshalb trete ich dafür ein, dass alle geimpft werden.

Covid-19 ist eine weltweite Erkrankung, trotzdem arbeiten die Länder mit völlig unterschiedlichen Strategien.

MONTGOMERY: Sinnvoll ist das nicht. Wir bräuchten eine weltweit koordinierte Strategie, das wäre die Aufgabe der Weltgesundheitsorganisation (WHO), aber die hat in der Krise durch den Einfluss von China eine Menge an Fehlern gemacht.

Was müsste die WHO ändern?

MONTGOMERY: Die WHO ist in ärmeren Ländern wichtig. Dort müsste sie die Gesundheitsversorgung darstellen, da gibt es aber so gut wie gar nichts. Informationen über Hygiene- und Abstandsregeln, Mundschutz – das wäre ihre Aufgabe. Wenn es einen Impfstoff gibt, wird es ein Hauen und Stechen um die Impfdosen geben. Da müssen wir aufpassen, dass es gerecht zugeht und andere nicht durch die Finger schauen. Insbesondere die ärmeren Länder. Auch eine WHO-Aufgabe.

Wie beeinflusst China die WHO?

MONTGOMERY: China hat eine viel zu große Macht und versucht, politische Ziele über die WHO umzusetzen. Länder wie Taiwan werden auf politischen Druck von China ausgeschlossen, obwohl wir in Sachen Corona von Taiwan lernen können. Das ist doch absurd. Die WHO muss wieder ärztlich geführt werden und nicht politisch motiviert. Sie muss zu einem Weltgesundheitsamt werden und nicht zu einer UNO für die Gesundheit.

Wie beurteilen Sie die unterschiedlichen Corona-Strategien?

MONTGOMERY: Österreich und Deutschland haben frühzeitig und gut reagiert, das sieht man an den Zahlen. Andere Länder haben sich von der gefährlichen Idee der Herdenimmunität leiten lassen, sind aber wie Holland oder England wieder ausgeschert – im Gegensatz zu Schweden. Dann gibt es Strategien der Verrückten wie Trump oder Bolsonaro, die das mit Toten bezahlen. Wenn ich höre, dass Trump prophylaktisch ein Malaria-Medikament nimmt, um vor dem Virus geschützt zu sein, frage ich mich, ob er nicht einmal zum Psychiater müsste. Das ist jenseits medizinischer Vernunft.

Warum ist die schwedische Idee der Herdenimmunität gefährlich?

MONTGOMERY: Dieses Modell hat nicht funktioniert. Es hat statt auf Zwang und Pflicht auf Information und Freiwilligkeit gesetzt. Die Schweden sind zwar eigentlich obrigkeitshöriger, aber die schwedische Lässigkeit scheint durch eine höhere Todesrate bezahlt werden zu müssen. Die Idee eines ungeregelten Erreichens der Herdenimmunität wird nicht aufgehen.

Einige der Corona-Maßnahmen werden heute mit Angstmache gleichgesetzt und dass sie zu lange gedauert hätten.

MONTGOMERY: Es ist legitim, mit sachlichen Argumenten Maßnahmen zu diskutieren. Was ich schrecklich finde: Dass eine Minderheit von Menschen mit Getöse und extremistischen Positionen Gehör und Raum bekommt, dass die Deutschen an der Nase herumgeführt worden seien. Ich wäre froh, einmal sagen zu können: Jetzt haltet mal die Schnute, wir müssen uns darum kümmern, die zweite Welle zu verhindern. In Deutschland stehen 66 Prozent der Bevölkerung zu den Maßnahmen, 17 Prozent geht es nicht weit genug. Dann gibt es 13 Prozent Schreihälse, die Verschwörungstheorien verbreiten. Mir kommt es manchmal vor, wir leben in einer Diktatur der Schreihälse.

Aber immer mehr bezweifeln die Präventionsmaßnahmen.

MONTGOMERY: Es gibt den Begriff eines Präventionsparadoxons. Wenn wir alle diese Maßnahmen einhalten, dann ist die Erkrankungsrate so gering, dass alle sagen: Ihr habt maßlos übertrieben. Hätten wir die Präventionsmaßnahmen nicht gesetzt und hätten mehr Tote, würde es heißen: Ihr habt versagt. Das darf uns als Verantwortliche nicht stören, wir müssen den Weg der Vernunft weitergehen. Schauen Sie, was in Brasilien und Amerika geschieht. Und wir werden weitere Katastrophen sehen. Deshalb kann ich mit Verschwörungstheoretikern nichts anfangen. Es ist auch bewiesen, dass man Influenza und Corona nicht vergleichen kann.

In welchem Bereich hat die Welt bei der Pandemie bisher versagt?

MONTGOMERY: Bei den alten Menschen haben wir alle versagt, da schließe ich mich ein. An die Katastrophe in der Katastrophe hat keiner von uns ausreichend gedacht. Auch nicht an den Mangel an Schutzausrüstungen.

Wie wird unser Leben in diesem Sommer aussehen?

MONTGOMERY: Es wird noch dauern, bis wir einen Impfstoff haben. Ich warne vor zu viel Optimismus und Sonnenschein, auch wenn jetzt alle sofort an den Wörthersee möchten. Was es 2020 nicht geben wird: vollgepackte Billigjets nach Mallorca, wo dann keine Abstandsregeln eingehalten werden. Man kann sich auch im Umland erholen und muss sich nicht in der Entfernung einem Risiko aussetzen. Nehmen wir Portugal her: Dort werden wenige Infektionen gezählt, im Gegensatz zu Spanien. Wohl, weil weniger getestet wird. Aber stellen Sie sich vor, im Strandkorb neben ihnen sitzt eine Familie aus England, es kommt zu einer Ansteckung. Man kann als Multispreader das Virus verbreiten, die Pandemie ist noch nicht besiegt.

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