Wenn diese Epidemie eine spirituelle Dimension hat – und das hat jede existenzielle Bedrohung –, dann ist es die: Wir gehen eines Glaubens verlustig. Des Glaubens an den Markt. Denn eines zeigt sich gerade in der Krise deutlich: Der Markt kann das nicht regeln. Der Markt mit seinem Credo: Privatisieren. Deregulieren. Sparen. Dieser ganze Marktglaube mitsamt seinem siegesgewissen Marktsubjekt fällt der Epidemie zum Opfer. Oder ist zumindest drastisch erschüttert. Und keiner kann sagen, ob er in der „neuen Normalität“ überleben wird. Ob er nach dem Schockmoment auferstehen wird. Noch gieriger als zuvor.

Denn keiner weiß, wie die Post-Corona-Welt aussehen wird. Was man aber sehen kann, das sind die Veränderungen, die die Pandemie bereits jetzt bewirkt hat. Die Krise ist wie ein Kontrastmittel: Sie dringt in die Hohlstellen der Gesellschaft ein und macht diese sichtbar.

So hat sie die neoliberale Logik zumindest unterbrochen. Es ist ein Umschalten von unhinterfragtem Streben nach Profit als einzigem Gesellschaftsziel zum Erhalt von Leben. Zumindest in der ersten Phase.

Ein Umschalten vom Dogma des Nulldefizits auf „koste es, was es wolle“. Ein Umschalten vom siegesgewissen Zugriff auf die Welt hin zur Erfahrung einer Verletzlichkeit. Auch wenn die Folgen die Menschen je nach sozialer Lage völlig unterschiedlich treffen. Ein Umschalten von gnadenloser Konkurrenz auf Rücksicht. Zumindest derzeit. Und auch nur innerhalb der eigenen Grenzen. Und ganz zentral: Unsere Vereinzelung hat sich verändert. Aus der triumphalistischen neoliberalen Vereinzelung ist eine Vereinzelung der Schutzbedürftigkeit geworden.

Die zweite Lektion, die uns diese Epidemie – teilweise brachial – gegeben hat: Der öffentliche Sektor kann mit Epidemien besser umgehen als der private. Öffentliche Krankenhäuser sind privaten in solchen Situationen weit überlegen. Das mussten Länder wie Italien, Spanien oder England bitter erfahren. Der Markt erweist sich als ungeeignet für solche gesellschaftlichen Aufgaben. Mehr noch: Privatisierungen rächen sich jetzt ebenso wie das Aushungern des Gesundheitswesens.

Diese drastische Rehabilitierung des öffentlichen Bereichs geht einher mit einer regelrechten Konversion: vom Glauben an den Markt zum zaghaften Glauben an den Staat. Wir haben das Umschalten von Marktdominanz auf politisches Kommando erlebt. Und das Umschalten des Politikmodus von Konsens auf Entscheidung. Das war in der akuten Situation notwendig. Die zentrale Frage aber ist: Was ist das für ein Staat, der da wiederkehrt?

Das ist genau der Moment, nachdrücklich etwas in Erinnerung zu rufen: Das gute Krisenmanagement hierzulande baut auf dem auf, was hier schwererkämpft wurde: dem öffentlichen Gesundheitswesen. Zumindest dem, was davon noch übrig ist. Es zeigt sich, wie relevant solche sozialen Errungenschaften sind: Wir zehren noch heute von deren Resten. Das, was uns heute rettet, das sind die Restposten des alten Sozialstaats.

Deshalb wäre die Lektion: Es braucht Bereiche, die auf Dauer – also über die Krise hinaus – dem Markt entzogen werden. Wie die medizinische Versorgung. Es braucht eine dauerhafte gesellschaftliche Renaissance vom Konzept des öffentlichen Guts. Also Güter, die dem Markt entzogen werden. Güter, die nicht nach Profit geregelt werden. Das wird auch bei einer zukünftigen Impfung ein drängendes Thema.
Es braucht eine Renaissance von Konzepten des Gemeinwohls. Kurzum – der Staat, der da wiederkehrt, müsste ein Staat der Daseinsvorsorge sein. Dazu braucht es Präventionen und Konjunkturprogramme. Schutz und Unterstützung. Freiheit und Gleichheit. All dies bräuchte aber eine politische Kraft, einen politischen Willen, der das durchsetzt. Ein Virus alleine schafft das nicht.

In dieser Zeit haben wir auch ganz nachdrücklich erfahren, was „systemrelevant“ bedeutet. Wir haben das
sozusagen hautnah erfahren (auch wenn „hautnah“ sehr alte Normalität ist). Systemrelevant sind jene, die uns durch diese Krise getragen haben. Jene, ohne die wir ungepflegt, unversorgt, unbeliefert geblieben wären. Jene, für die man um 18 Uhr geklatscht hat. Von den Balkonen, Fenstern, Vorgärten aus. Das war wie das Bild, wie die Szenerie der neuen gesellschaftlichen Differenz.

Alle versuchen mitzuwirken, um das Virus einzubremsen. Der Unterschied ist: Die einen müssen sich dazu – viel beklagt – zurückziehen. Aber die anderen müssen draußen bleiben. In einer Zeit, wo die Außenwelt zum Feindesland wird, wo jeder Einkauf zu einer Expedition gerät mit Schutzmaterial und Spießrutenlauf. Wo jeder, dem man begegnet Träger des „Bösen“ sein kann – völlig unabhängig von seiner Intention. In so einer Zeit verläuft die gesellschaftliche Differenz zwischen Schutz und Exposition. Also zwischen jenen, die sich schützen können, und jenen, die sich der Gefahr exponieren müssen.
Wobei es ja noch komplizierter ist: Denn beide Seiten leisten einen gesellschaftlichen Beitrag. Aber die einen, indem sie sich (und andere) dabei schützen, – und die anderen, indem sie sich exponieren (und andere damit möglicherweise auch gefährden). Eindeutigkeit war gestern.

Die Letzteren, meist angesiedelt im Niedriglohnbereich, sind nun zu Systemerhaltern geworden. Zu Garanten der gesellschaftlichen Infrastruktur. Das ist allen plötzlich bewusst geworden. Die Krise hat diese Übersehenen sichtbar gemacht.
In dem Moment, wo man auf gesellschaftlichen Gebrauchswert, also auf Nützlichkeit umgeschaltet hat, haben sie eine neue Wertschätzung erfahren. So hat man etwa die Supermarktarbeiter geehrt – von der Kassiererin bis zum Regaleinschlichter. Aber was hatte es für diese real zur Folge? Eine österreichische Supermarktkette etwa kündigte laut ein 15. Gehalt zum Dank an. Tatsächlich belief sich dieses auf 150 Euro. In Gutscheinen. Und das in einer Situation, wo die Supermärkte das Geschäft ihres Lebens machen.

Der ganzen Gesellschaft ist klar geworden, was systemrelevant bedeutet. Und welcher Vorkehrungen es auch mit Blick auf die Zukunft bedarf, um gewappnet zu sein gegen das, was sich jederzeit wieder ereignen kann. Damit das Unerwartete nicht unvorhergesehen ist. Aber das würde eine Übersetzung brauchen: Die symbolische Anerkennung müsste sich in eine reale übersetzen – in die Realität der Arbeitsbedingungen ebenso wie in die der Löhne. In die angemessene Sicherung der gesellschaftlichen Infrastruktur. Aber ist das in Sicht? Wird sich unsere neue Erkenntnis, was „systemrelevant“ bedeutet, übersetzen? Etwa in eine Existenzsicherung?

Die erfolgten Veränderungen der letzten Wochen sind durchaus ambivalent: Kann denn die Erfahrung von Schwäche wirklich emanzipatorisch sein? Wie werden sich die Subjekte mit dieser Erfahrung von Verletzlichkeit in der wohl drastischen ökonomischen Situation, die nun folgen wird, behaupten? Die Effekte dieser Pandemie werden enorm sein – aber nicht notwendig progressiv. Wir wissen nur, was die Geschichte lehrt: Seuchen waren nie moralische Besserungsanstalten, aus denen die Menschen geläutert und die Welt verbessert