Wer in den digitalen Annalen von Ischgl blättert, findet einen späteren Nobelpreisträger: Bob Dylan ist dort aufgetreten, in 2300 Meter Seehöhe am 1. Mai 1999. Die Chronik verschweigt, was damals groß auf den Ankündigungsplakaten geprangt hatte: „Benefizkonzert“ – und viel kleiner „für die Lawinenopfer von Galtür und Valzur“. Nicht einmal die damalige Spendengarantie ist der Historien-Vermarktung noch eine Erwähnung wert: eine Million – Schilling. In Galtür waren am 28. Februar 31 Menschen gestorben, in Valzur tags darauf sieben. Valzur ist ein Weiler von Ischgl. Dieser Zusammenhang wurde konsequent getilgt. Krisenkommunikation vom Marketing-Meister.

Nun war und ist Ischgl so wenig Tirol, wie dieses Österreich verkörpert. Doch hier offenbart sich im Kleinen das System eines neureichen Landes, das infolge der Coronakrise kollabiert. Im abgelegenen Paznaun ist die Erinnerung an eine Armut noch wach, die Bergbauern bis vor 100 Jahren ihre Kinder nach Schwaben zur Arbeit wandern ließ. Die Härte dieser Vergangenheit prägt den Menschenschlag bis heute. Sie ist eine Ursache des touristischen Welterfolgs von Ischgl als alpinem „Ibiza“ und von Tirol als „Herz der Alpen“.

50 Millionen, ein Drittel der jährlichen Nächtigungen in Österreich, gehen auf das Konto dieses Bundeslandes mit nur 8,5 Prozent der Bevölkerung. Im Winter 2018/19 waren es 1,4 Millionen allein in Ischgl mit seinen 1600 Einwohnern bzw. 1200 Stimmberechtigten, die bei Landtags- wie Nationalratswahlen zu mehr als drei Vierteln für die ÖVP votieren. Zum Vergleich: In dieser Saison hatten die gesamte Steiermark 5,9 und ganz Kärnten 3,7 Millionen Nächtigungen.

"Tirol verdankt dem Tourismus alles"

Doch Ischgl ist nicht die Spitze des Schneebergs: Sölden verzeichnete 2,1 Millionen. Sein Ötztal Tourismus hat mit 32 Millionen Euro um ein Drittel mehr Jahresbudget als die Tirol Werbung. Die flächenmäßig größte Gemeinde Österreichs mit 3100 Einwohnern taugt gut zur grundsätzlichen Tirol-Erklärung: Keine 15 Prozent des Landes sind nutzbarer Dauersiedlungsraum. Bis 1967 lebten in Tirol weniger Menschen als in Kärnten: Heute sind es 750.000 gegenüber 560.000.
Die Übernachtungen zum Skifahren haben sich seitdem versiebenfacht.

Dennoch hat der Winter die Sommersaison erst in den 1990er-Jahren endgültig überholt. Inzwischen brüstet sich das Land mit der vergleichsweise geringsten Verschuldung und niedrigsten Arbeitslosigkeit. Das ist vor allem dem geschuldet, was keiner mehr Fremdenverkehr nennt – obwohl dieses Wort den regionalen Zwiespalt im Verhältnis zu den Gästen weiterhin gut beschreibt. Tirol verdankt dem Tourismus alles. Mehr, als es 8,4 Milliarden Euro Umsatz und 17,5 (statt im Österreich-Schnitt sieben) Prozent BIP-Anteil ausdrücken.

Kaum jemand weiß das besser als Günther Platter. Der Landeshauptmann war von 1989 bis 2000 Bürgermeister von Zams, das am Inn zwischen den Taleingängen nach Ischgl und Sölden liegt. Er kennt die Ausweglosigkeit des Systems Tirol zwischen Transit und Tourismus in Tälern, die sonst nur karge Landwirtschaft als Überlebensalternative bieten. Er ist seit jeher vertraut mit der Abhängigkeit der Politik von dieser Branche – und ihrer Brutalität, für die heute klischeehaft Franz Hörl steht. Der ÖVP-Abgeordnete zum Nationalrat, Chef des Fachverbandes der Österreichischen Seilbahnen und Landesobmann des Tiroler Wirtschaftsbundes war von 1992 bis 2009 Bürgermeister von Gerlos, das unmittelbar nach Kitzbühel in der Nächtigungsstatistik folgt. Man kennt sich. Schon sehr lang.

Wenn der Bauernbund als die wahre Macht im Land gilt, obwohl es „mehr Schwule als Bauern in Tirol“ gibt (so einst die LIF-Abgeordnete Maria Schaffenrath), ist das ein Zerrbild. Aus einst kleinen Landwirten sind große Seilbahner und Hoteliers geworden. Der Bauernbund hat den Wirtschaftsbund gekapert. Und Platter aus dem ÖAAB sieht Tirol immer mehr auseinanderdriften. Die Stadt-Land-Kluft wird hier verstärkt durch den Konflikt von Naturschützern und Touristikern. 2017 wurden weitere Olympische Winterspiele nach 1964 und 1976 schon zum dritten Mal per Volksbefragung abgelehnt. In Ischgl waren 83 Prozent dafür. Zwar nicht als Austragungsort im Gespräch, hätte das gut in seine Marketingstrategie gepasst: Es will nicht mehr als Ballermann der Alpen gelten und rühmt sich der höchsten Nobelhotel- und Haubenlokal-Dichte.

Vom Remmidemmi hin zum Klimaschutz-Tourismus

Kitzbühel hingegen, wo die Zweitwohnsitzquote 60 Prozent beträgt, hat gegen Olympia gestimmt. Unterdessen propagiert die Tirol Werbung eine Imagekorrektur, weg vom Remmidemmi hin zum Klimaschutz-Tourismus. Sie wurde mit Standortagentur und Agrarmarketing fusioniert – in der Holding „Lebensraum 4.0“. Aus guten Gründen. Denn der Lebensraum wird für die Tiroler unerschwinglich. Die Mieten und Immobilienpreise in Innsbruck mit seinen mehr als 30.000 Studenten sind neben Salzburg die höchsten in Österreich.

Das Land leidet unter zunehmender Polarisierung von Arm und Reich. Ischgl ist längst von der einen an die andere Front geraten. Doch die Härte in der Auseinandersetzung ist ihnen nicht nur dort geblieben. Die Ötz- und Pitztaler hätten zur Fusion ihrer Gletscherskigebiete angeblich auch einen Gipfel weggesprengt, der sich dann aber bloß als kleine Spitze eines Grates entpuppte. 70 Prozent der Landesbevölkerung wollen das alles nicht – ergab eine Umfrage im Auftrag der „Tiroler Tageszeitung“. Ihr Chefredakteur Alois Vahrner stammt auch aus Zams. Man kennt sich. Schon sehr lang.

Das Projekt liegt jetzt auf Eis. Die schwarz-grüne Koalition hatte davor im Regierungsprogramm den Pontius Pilatus gegeben: Es sei „bereits im behördlichen Verfahren (…), daher nach den einschlägigen rechtlichen Kriterien abzuarbeiten“ und wurde „außer Streit gestellt“. In der laut Selbstbild ältesten Festlanddemokratie der Welt schieben sie gern der Behörde zu, was die Politik entscheiden muss. Sie lassen die Kirche erst dann nicht mehr im Dorf, wenn es ganz eng wird. Platter hat Bischof Hermann Glettler als Flankenschutz bei einer Pressekonferenz bemüht, während Caritas-Direktor Georg Schärmer via Facebook die Tirol-Kritiker zu „Stopp Bashing“ mahnte. Vor allem der als Kleinbauer und Zimmervermieter im Ötztal lebende Blogger Markus Wilhelm deckt seit Jahrzehnten regionale Skandale auf. Doch eher wird er als Nestbeschmutzer vernadert, als dass man einen Hörl öffentlich zur Räson riefe. Den Polit-Rambo haben sie im Februar erst mit 97 Prozent als Landesobmann jenes Wirtschaftsbundes bestätigt, der dann bei der Kammerwahl eine Vier-Fünftel-Mehrheit erreicht hat.

Doch es nutzt alles nichts. Corona ist keine Lawine. Heute fehlt ein Valzur, das sich als Markenschutz missbrauchen lässt. Mit „Bezirk Landeck“ wurde es versucht, doch die Medien wüten weltweit gegen Ischgl und Tirol. Ein paar Rücktritte wären dort eine moralische Wohltat, doch es fehlen personelle Alternativen. Und ohne den überfälligen Systemwechsel wird das auch so bleiben. In Tirol kontrolliert nicht die Politik den Tourismus, sondern der Tourismus die Politik. Dies radikal umzudrehen, ist die einzige Chance von Platter & Co., die Coronakrise zu überstehen. Das wäre dann sogar vorbildlich für eine Welt, in der die Politik wieder das Primat vor der Wirtschaft hat.

Bob Dylan beendete sein Konzert 1999 auf der Idalpe mit „Blowin in the Wind“. Heute müsste er „The Times They Are a-Changin’“ singen. Um Hoffnung zu geben.