Herr Bischof Chalupka, Sie sind seit 1. September im Amt: Was bedeutet es, evangelisch zu sein in Österreich?
Michael Chalupka: Das bedeutet einerseits, einer religiösen Minderheit anzugehören. In der Gemeinschaft unserer Pfarrgemeinden steckt aber eine große Kraft und viel Freude. Es hat auch mit Selbstbewusstsein zu tun, evangelisch zu sein. Uns wurde die Freiheit geschenkt, aber wir übernehmen auch Verantwortung für die Gesellschaft. Wir tragen zum Selbstverständnis dieses Landes bei.

Haben Sie ein Leitbild, das Sie über Ihre Amtszeit stellen wollen?
Chalupka: Was mich besonders bewegt, ist der Römerbrief, Kapitel 1, Vers 16: "Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben." In diesen Worten steckt so viel drinnen: Wir können auch in einer säkularen Welt, in der es oft belächelt wird, religiös zu sein, stolz sein. Das Evangelium ist eine Kraft. Es geht um die Gerechtigkeit, die Gott schenkt – und die reformatorische Kraft.



Was kann einem der Reformationstag, der heute von den Evangelischen gefeiert wird, noch geben? Was bedeuten die 95 Thesen, die Martin Luther am Abend vor Allerheiligen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche anschlug, 502 Jahre später?
Chalupka:Ich sehe eine große Aktualität. Luther fürchtete sich vor einem Urteil durch einen strafenden, aber gütigen Gott: Das ist etwas, das uns fremd geworden ist. Die Beurteilung durch andere ist existenzieller geworden, und die Instanzen änderten sich: Es geht heute etwa darum, wie man in sozialen Medien beurteilt wird. Ein Shitstorm kann Persönlichkeiten ins Wanken bringen. Es ist wichtig, Selbstbewusstsein zu haben, sich nicht nur vom Urteil anderer abhängig zu machen. In Gottes Augen ist man immer etwas wert: etwas sehr Heutiges!

Leben wir in einer egozentrischen Zeit, die das Wertschätzen des anderen nicht mehr kennt?
Chalupka: Als Menschen brauchen wir es, wahrgenommen und geschätzt zu werden. Und das wird vor allem in der Gemeinschaft spürbar. Wir leben in einer Zeit der starken Vereinzelung. Wir leben in Blasen, die nicht miteinander verbunden sind. Ja, wir leben in einer Gesellschaft, die oft egozentrisch wird. Deshalb ist Gemeinschaft in der Kirche so wichtig. In unseren Pfarrgemeinden treffen sich völlig unterschiedliche Menschen. Heute wird gerne der moderne Begriff der Inklusion gebraucht. Ich spreche niemandem ab, dass er auch für sich alleine spirituell sein und an Gott glauben kann. Es gibt aber wenige Gemeinschaften, die derart inklusiv sind wie Gottesdienstgemeinden.

Sie haben einen Empfang gegeben unter dem Titel "reformierte Reformation" – ist sie denn wieder renovierungsbedürftig?
Chalupka: Die Reformation hat stets eine Reform nötig, das ist ein Grundsatz der evangelischen Kirche und Urformel der Reformation. "Ecclesia semper reformanda" ("Die Kirche muss immer reformiert werden"). Diese Veranstaltung war eine Erinnerung daran, dass wir in der evangelischen Kirche mit Luther und Huldrych Zwingli (Schweizer Theologe, Anmerkung) verschiedene Traditionen haben.

Sie waren lange für die Diakonie tätig, gelten als kritischer Kopf: Was wünschen Sie sich von einer neuen Bundesregierung?
Chalupka: Die Kirche wird stets politisch sein, weil das Evangelium politisch ist. Gott ist parteilich, weil er Partei ergreift für die Seite der Armen, die Menschen am Rande der Gesellschaft, sozial Ausgeschlossene. Das tat auch Jesus, er ist uns im Evangelium Vorbild. Was die Kirche nicht darf: sich parteipolitisch engagieren. Wir haben in der 1. Republik schlimme Erfahrungen damit gemacht. Kardinal Franz König verdanken wir viel, um nicht mehr dorthin zu kommen. Er prägte den Begriff der Äquidistanz (Prinzip, wonach Parteien ihre Nähe zur Kirche selbst bestimmen, Anmerkung). Sie werden keine Kommentierung etwaiger Koalitionsvarianten seitens der Evangelischen Kirche hören. Wir ergreifen aber das Wort, wenn die Würde des Menschen gefährdet ist. Geht es um gesellschaftlichen Zusammenhalt, erinnern wir Parteien daran, was sie versprochen haben. Jeder Christ ist aufgerufen, sich selbst ein Bild zu machen, wohin es geht.

Themenwechsel: Die Evangelische Kirche hat beim Verfassungsgerichtshof gegen die geltende Karfreitagsregelung einen Antrag auf Gesetzesprüfung eingebracht. Was erhoffen Sie sich?
Chalupka: Wir bemühen uns auf allen Ebenen, damit der Karfreitag wieder zum Feiertag wird – aus drei Gründen: Dieser Tag ist für uns Evangelische auch Symbol dafür, dass sich die Republik Österreich dem Erbe der Vergangenheit – Stichwörter Gegenreformation und Verfolgung – stellte. Eine symbolische Wiedergutmachung, kein Privileg. Der Karfreitag ist gemeinsam mit dem Ostersonntag der höchste Feiertag der Christenheit – er ist auch für die katholische Kirche wichtig. Und: Ein Tag, an dem an das Leiden und an die Brüchigkeit des Menschen erinnert wird, an dem nicht nur an zu erbringende Leistung gedacht wird, ist für uns alle von großer Bedeutung.



Regen Sie also, wenn Sie vom Karfreitag sprechen, einen zukünftigen Feiertag für alle an?
Chalupka: Es könnte ein Feiertag für alle sein. Wie das dann ausschaut, müsste sich die Politik an einem runden Tisch ausmachen. Es gibt hier viele Interessensfelder: klarerweise jene der Kirche, aber auch jene der Wirtschaft und der Arbeitnehmer.

Was sagen Sie zur Behauptung, dass die Evangelische Kirche nicht genug Gegenwehr geleistet habe, als aus ihrem Feiertag ein "persönlicher Feiertag" wurde, der als Urlaubstag zu nehmen wäre?
Chalupka: Es gab keine Gelegenheit für einen runden Tisch auf Augenhöhe, an dem wirklich hätte verhandelt werden können! Es ist gesagt worden: "So ist es." Deshalb die Klage. Der "persönliche Feiertag", den man einseitig nehmen kann, ist problematisch. Welcher Arbeitnehmer will sich schon möglichen Zorn seines Arbeitgebers einhandeln? Mehrere Parteien haben gesagt, dass sie für einen zusätzlichen Feiertag seien. Ich hoffe, dass es in Koalitionsverhandlungen zu einem Thema wird.

Die Amazonien-Bischofssynode im Vatikan hat sich für eine Priesterweihe von verheirateten Männern – in regionalen Ausnahmefällen – ausgesprochen. Ein Durchbruch in Ihren Augen?
Chalupka: Ich werde mich hüten, hier eine Bewertung vorzunehmen. Was mich freut, ist, dass ein klarer Akzent auf die Bewahrung der Schöpfung gelegt wurde. In der Geschichte verstand man darunter nicht selten auch Beherrschung. Zudem machte man sich grundlegende Gedanken, wie man das Abendmahl in den Gemeinden feiern kann, wie man seelsorgerisch wirkt.

Wie geht es der Ökumene?
Chalupka: Sie ist vorbildlich. Ich würde mich aber freuen, wenn wir bei der gemeinsamen Eucharistie auch im Sinne der Gastfreundschaft weiterkämen. Das ist ein schmerzlicher Punkt. Wir – also die evangelische und die katholische Kirche – haben unterschiedliche Auffassungen, sollten aber am Tisch des Herren Brot und Wein teilen können. Diesen Wunsch haben wir.