Knapp drei Wochen vor den Wahlen steigen Österreichs Top-Klimaforscher in den Ring. Eine Premiere: Noch nie zuvor haben mehr als 70 Wissenschaftler einen umfassenden Leitfaden für eine künftige Regierung geliefert. "Wir wollen politisch relevant sein," sagt Koordinator Mathias Kirchner zu dem ungewöhnlichen Schritt. Der in mehreren Monaten erarbeitete "Referenzplan" soll Basis für den nationalen Energie- und Klimaplan (NEKP) werden, den Österreich bis Jahresende bei der EU-Kommission in Brüssel abliefern muss. Zudem will das Climate Change Center Austria (CCA) kurz vor der Wahl die konkrete Klimaschutz-Kompetenz aller Parteien bewerten. "Wann, wenn nicht jetzt, gerade weil derzeit viel Nebel erzeugt wird," kritisiert Gottfried Kirchengast, Klimaforscher am der TU Graz oft gewisse Angstmache im Wahlkampf. 

So ist der Klimawandel inklusive vieler Abwehrreflexe zwar ein heißes Wahlkampfthema, einer neuen Regierung bleibt aber praktisch keine Zeit, um den Klima- und Energieplan umfassend umzuarbeiten. Mit dem bisherigen Entwurf würde Österreich in der EU zu den fünf Schlußlichtern in Sachen Klimaschutz gehören. Das Nicht-Erreichen wichtiger Klimaziele ist in Zukunft mit Strafzahlungen in enormer Milliardenhöhe verbunden.

"Viel schlimmer, als bisher erwartet"

Die Wissenschaft sei bisher zu zurückhaltend gewesen, räumt Klimaforscherin Helga Kromb-Kolb ein. "Es gibt zunehmend mehr Literatur, dass es viel schlimmer wird, als bisher erwartet. Dem müssen wir eine Vision entgegensetzen." Der Referenzplan wird nun im Nationalen Klimaschutzkomitee eingereicht. Eine erste Version liegt dort schon seit Juli. Seither sind aber mehr als tausend wissenschaftliche Kommentare in den nunmehrigen  Referenzplan eingeflossen. "Es ist nicht der Plan, vor dem man Angst haben muss, es ist der Klimawandel vor dem man Angst haben muss," so Kromp-Kolb. 

Der Referenzplan orientiert sich am 1,5 Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens und ist weit  ambitionierter als die 2030-Ziele, die die türkis-blaue Regierung anvisiert hatte. 2045 sollte Klimaneutralität erreicht sein. 2055 das 100-Jahr-Jubiläum der Republik tatsächlich CO2-frei zu sein, sei ein schönes plakatives Ziel, so die Wissenschaftler.Konkret beinhaltet ihr Klimaplan neun große Rahmenmaßnahmen. Wenig überraschend findet sich ganz oben auf der Liste eine klimagerechte Steuerreform. Karl Steininger, derzeit gemeinsam mit Kirchengast viel gefragter Klima-Ökonom von der Karl-Franzens-Universität Graz, stellt sich sehr klar gegen die derzeit im Wahlkampf geschürte Angst vor neuen Steuern. "Schweden hat gleichzeitig mit der Einführung einer CO2-Steuer die gesamte Steuerbelastung um sechs Prozentpunkte heruntergebracht." Für Helga Kromp-Kolb hat Klimaschutz nichts mit Schreckensszenarien zu tun, es habe ihr und den Kollegen enorm Spaß gemacht, an dem Plan zu arbeiten. "Es ist eine Freude, ein Österreich zu zeichnen, dem es gut geht, in dem sich alles verändert hat." Für mehr Zukunftsvertrauen und Lebensfreude lohne es sich zu kämpfen.  

Maßnahmen bis ins Detail will das CCCA aber keinesfalls liefern, betont Kirchner. Was gesellschaftlich am besten sei, die einzelnen Wege, um die Klimaziele zu erreichen, sei auch eine Frage von Werten, insofern nicht von der Wissenschaft zu beantworten. Welche Antworten derzeit die Parteien etwa zu einer klimagerechten Steuerreform, einem Umbau zur Kreislaufwirtschaft, klimazielfördernder Digitalisierung oder einem adäquaten Ausbau erneuerbarer Energien haben, fragt das CCCA bis zum 20. September ab. Die Ergebnisse werden am 25. September vier Tage vor der Wahl veröffentlicht.