Amstetten. Krumbach. Wiener Neustadt. Wien. Schon in den ersten zwei Wochen des neuen Jahres wurden in Österreich gleich vier Frauen ermordet. In allen Fällen standen die Opfer in einem Familien- oder Beziehungsverhältnis. Zeigt sich hier ein fundamentales Problem?

Reinhard Haller: Es ist ein trauriger Trend, der sich hier abzeichnet. Auf der anderen Seite mischt hier auch die Statistik mit: Weil wir in Österreich kaum Bandenkriminalität im großen Stil haben, sind 60 bis 70 Prozent der Morde Beziehungsdelikte. Sprich: Der Feind wohnt unter dem eigenen Dach. Frauen sind weit häufiger betroffen, weil Männer gewalttätiger sind und Frauen die Schwächeren.

In Österreich gibt es europaweit die meisten weiblichen Mordopfer. Was ist hier los?

Meist handelt es sich dabei um Beziehungstaten. Gott sei Dank gibt es nicht mehr die starre Struktur: einmal Ehe, immer Ehe. Wenn es eine Frau in einer Beziehung nicht mehr aushält, kann sie gehen. Aber das verkraften viele Männer nicht.

Und dann kommt die Rache der Gekränkten?

Männer gehen mit Kränkungen, mit Angst, mit Liebesentzug viel schlechter um als Frauen. Wenn der Mann die Urangst hat, nicht mehr geliebt zu werden, dann setzt er sich nicht damit auseinander, dann schluckt er das nicht hinunter, dann projiziert er auch nicht, wie Frauen all das häufig tun, sondern strebt sofort nach einer im wahrsten Sinn todsicheren Lösung.

Welche Rolle spielen patriarchale Strukturen?

Es gibt nie nur einen Grund, warum etwas passiert. Aber natürlich ist es auch so, dass Menschen, die aus einem anderen Kulturkreis kommen, in dem patriarchale Strukturen herrschen, einen anderen Umgang miteinander haben und sich erst an unsere Normen anpassen müssen. Im Umgang mit uns tun sich Menschen aus anderen Kulturen anfangs am schwersten. Und 34 Prozent der Flüchtlinge – ohne jetzt bitte missverstanden zu werden – gehören der Hochrisikogruppe der jungen Männer an.

Was heißt das?

Das sind die 20- bis 30-Jährigen. In dieser Altersgruppe steigt das Aggressionspotenzial. Und nur, um es noch einmal zu betonen: Das wäre auch bei 20- bis 30-jährigen Österreichern nicht anders, wenn man diese Gruppe gehäuft irgendwo hinbringen würde. Denn 70 bis 80 Prozent der Gewaltkriminalität gehen von dieser Altersgruppe aus.

Zu viel Testosteron?

Genau. Weil bei einem jungen Mann das Hormonkonzert auf Hochtouren spielt, weil die Körperkräfte enorm sind, weil der Sexualtrieb stark ist, weil die Hemmschwelle viel niedriger ist, weil in diesem Alter auch noch zusätzliche Risikofaktoren vorliegen wie etwa Alkoholkonsum. Aber es geht immer um mehrere Faktoren.

Um welche noch?

Ich weise seit Jahren darauf hin, dass die Familientragödien unter Einheimischen seit zehn, 15 Jahren dramatisch zunehmen. Was damit zu tun hat, dass es Männer heute schlechter denn je verkraften, wenn die Frauen selbstständig sind und ihr eigenes Leben im Griff haben. Auffällig ist aber auch, dass schwere Körperverletzungen, Mord und Totschlag immer motivärmer werden. Da reicht oft schon eine Kränkung oder eine Beleidigung und die Täter rasten aus. Bei Problemen wird heute viel ungenierter und viel schneller zum Messer gegriffen.

Was muss in einem Mann vorgehen, damit er tatsächlich tötet? Gibt es eine Psychologie des Mordes an Frauen?

Letztlich ist es diese tief verankerte Urangst, nicht versorgt, nicht geliebt, verlassen zu werden. Ich bekomme nicht genug von dieser emotionalen Muttermilch, oder sie wird mir entzogen. Dann wählen diese Männer die brutale Lösung, die ihnen kurzfristig eine psychische Erleichterung bringt. Diese Morde sind in den seltensten Fällen geplant. Es beginnt im Streit, die Emotionen schaukeln sich auf, man wird immer affektiver, kocht vor Wut.

Innenminister Kickl hat ein „Screening der heurigen Mordfälle“ angekündigt: Was bringt das?

Ich denke, es ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Aber ich muss auch sagen: Obwohl ich mich seit bald 40 Jahren durch meine forensische Tätigkeit damit beschäftige, weiß auch ich keine Lösung. Daher greift man nach jedem Strohhalm, von dem man sich etwas verspricht. Nottelefon, Krisenwohnungen, mehr Sozialarbeiter, härtere Strafen. Alles richtig, aber das Problem wird man nicht lösen.

Was würde es brauchen?

Wahrscheinlich kann man das Problem nur mittelfristig lösen, indem man wieder zu einem anderen gesellschaftlichen Klima kommt: dass man innere Spannungen wieder besser aushält, dass man gekränkt sein und leiden darf und die Affekte nicht hinter der Maske der Coolness verbirgt, wie es heute der Fall ist. Und dass man wieder akzeptiert, dass mein Recht dort aufhört, wo die Grenze des anderen beginnt. Achtsamkeit und Wertschätzung sind Themen, die in unserer Gesellschaft verloren gegangen sind: Die müssen wieder stärker werden.

Was hat zum Niedergang der Wertschätzung geführt?

Zum einen hat der Narzissmus zugenommen, das zeigen sämtliche Untersuchungen: Wenn sich alles auf mich selbst richtet, bleibt für den anderen nicht mehr viel übrig. Zum anderen sind die Emotionen digitalisiert worden, sie sind nicht mehr echt, sondern werden mit Emoticons ausgedrückt. Da geht auch eine Spur Wertschätzung verloren. Und dann gibt es noch das Idealbild Coolness. Abgebrüht sein, keine Emotionen zeigen. Meistens stecken hinter den besonders Coolen auch die besonders verletzlichen Wesen. Auch unser Umgang mit alten Menschen ist ein Faktor, der zu einer Wertschätzungsblockade in unserer Gesellschaft geführt hat. Wenn wir diese Menschen, die bald ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, nur noch als Kostenfaktor sehen, ist das eine fatale Entwicklung. Und dann gibt es auch noch den Niedergang des Ehrbegriffs.

Was meinen Sie damit?

In der gesamten EU gibt es den Ehrbegriff praktisch nicht mehr – im Gegensatz zu anderen Kulturen. Ich denke, das ist eine schlechte Entwicklung, die sich unter anderem in einer Radikalsprache und in Hasspostings äußert. Via Internet breitet sich ein Klima des Hasses aus und man kann nichts dagegen tun. Versuchen Sie einmal, heute jemanden wegen Ehrenbeleidigung zu belangen: Das wird Ihnen nicht leicht gelingen. Vor 200 Jahren hat man sich wegen verletzter Ehre noch duelliert, auch ein Blödsinn, aber die völlige Ehrlosigkeit ist auch nichts, was Wertschätzung fördert.

Achtung, Ehre, Wertschätzung.

Ja, es braucht wieder mehr von diesen ganz konservativen Wertbegriffen.
Aber geht es bei den Morden an Frauen letztlich nicht immer um Macht?
Absolut. Wenn es gegen den Willen zur Trennung kommt, dann gibt es die Ohnmacht, und dann reagieren die Männer mit Primitivmechanismen.

Wie können sich Frauen besser schützen?

Ich denke, dass Distanz der Notfalltipp ist, wenn die Emotionen aufzukochen beginnen. Flucht ergreifen, in ein Frauenhaus gehen, Hilfe suchen. Auf jeden Fall so schnell wie möglich weg von diesem explodierenden Fass.

Kann jeder zum Mörder werden?

Nein, denn Mord setzt immer Planung und einen Willen dazu voraus. Aber ich denke, dass jeder zum Töter werden kann: aus Notwehr, im Vollrausch, im Affekt.