Frau Gattinger-Holböck, Sie sind seit kurzem zurück in Österreich. Was war Ihr erster Eindruck als Sie für "Ärzte ohne Grenzen" auf Lesbos ankamen?

Monika Gattinger-Holböck: Ich bin auf dieser wunderschönen Urlaubsinsel angekommen, und dann gibt es dort das Camp Moria, das größte Flüchtlingslager der Insel, und man sieht Dinge, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass sie in Europa passieren. Dieser Widerspruch war für mich extrem. Das Aufnahmezentrum war ursprünglich für maximal 3000 Menschen angelegt, im Mai waren dort 7400 Geflüchtete untergebracht, darunter mehr als 2000 Kinder. Von außen wirkt es, mit all dem Stacheldraht herum, wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Die Menschen sind in notdürftigen Zelten untergebracht, in überbelegte Container gestopft, die Kinder spielen im Dreck und Müll. Um die wenigen Duschen müssen sich die Menschen streiten, die paar Toiletten die es gibt, sind völlig verdreckt. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass so etwas in Europa passieren kann. 

Können die Menschen das Lager nicht verlassen?

Sie können raus, müssen aber im Lager wohnen, weil sie dort registriert sind. Vielen geht es psychisch aber so schlecht, dass sie es gar nicht aus ihren Zelten oder aus dem Camp heraus schaffen. Sie sind oft schwer depressiv oder so voller Ängste, dass sie es nicht wagen, sich außerhalb zu bewegen.

Monika Gattinger-Holböck von Ärzte ohne Grenzen
Monika Gattinger-Holböck von Ärzte ohne Grenzen © MSF

Woran liegt das?

Das Schlimmste ist, dass die Menschen in ständiger Angst leben: Angst davor, abgeschoben zu werden; Angst vor der Gewalt im Camp; Angst auch vor sexuellen Übergriffen, Frauen können nachts gar nicht auf die Toilette gehen. Und dazu kommt die Ungewissheit: Sie wissen nicht, wie lange sie dort ausharren müssen. Es ist sehr unterschiedlich, aber viele sind schon mehr als zwei Jahre dort – seit dem Abkommen zwischen Türkei und EU im März 2016. Seither dürfen Asylwerber die Insel erst verlassen, wenn ihr Asyl-Ansuchen entschieden ist. Die Menschen bezahlen für die Entscheidungen unserer europäischen Politik. Es wirkt ja fast wie gewollt. Das Lager soll als Abschreckung dienen, was aber nicht funktionieren kann – die Menschen haben alle Gründe zu fliehen. Ich habe keinen getroffen, der einfach nur versucht hat, nach Europa zu kommen, ohne dass sein Leben bedroht war.

Sie kamen als Psychotherapeutin in das Lager: Wie schwer traumatisiert sind die Geflüchteten?

Wir hatten eine Klinik für Überlebende von Folter und sexueller Gewalt. Wir wurden überrannt, wir konnten dem Bedarf nach psychologischer Behandlung überhaupt nicht gerecht werden. Wir hatten sehr viele suizidgefährdete Patienten, 65 Prozent der Patienten hatten schwerste posttraumatische Belastungsstörungen, der weitere Teil hatte schwere Depressionen und Angststörungen.

In welchen Erfahrungen wurzeln diese schweren psychischen Probleme?

Die Menschen haben in den Heimatländern, vor allem sind das Syrien, Irak und Afghanistan, Entsetzliches erlebt: Folter, Kriegsgräuel, Vergewaltigungen. Aber auch auf der Flucht erleben die Menschen Traumatisches: Brutale Misshandlungen in türkischen Gefängnissen oder Frauen, die von Schleppern mehrfach vergewaltigt wurden. Sobald die Flüchtenden dann endlich in Griechenland angekommen sind, verlieren  sie alle Hoffnung und brechen seelisch zusammen. Unter diesen Umständen können die Traumatisierungen auch nicht heilen, sondern  verschlimmern sich vielmehr.

Wenn diese Menschen dann Asyl bekommen, kommen sie schwer traumatisiert in Europa an.

Ja, wobei: Wenn sich die Menschen in Sicherheit fühlen können und die psychologische Hilfe bekommen, die in den EU-Richtlinien vorgesehen wäre, heilen auch die alten Traumata wieder. Doch durch die ständige Bedrohung im Lager ist es unmöglich, dass diese Traumatisierungen heilen.

Wer hilft den Menschen vor Ort?

Neben "Ärzte ohne Grenzen" waren noch einige andere NGO's da, die mit Freiwilligen medizinische Betreuung angeboten haben – aber auf einem geringen Niveau. Was die psychologische Behandlung betrifft, war unsere Klinik das einzige Angebot. Als ich Ende Oktober angekommen bin, hatten wir täglich 30 neue Patienten, zehn davon akut suizidgefährdet. Anfang Dezember hatten wir dann eine Warteliste mit mehr als 500 Patienten. Die Klinik ist aus allen Nähten geplatzt. Vom griechischen Gesundheitsministerium gab es sechs Psychologen im Camp, aber die hatten keine Dolmetscher – die konnten gar nicht richtig arbeiten. Eigentlich besagen die EU-Richtlinien aber, dass es die Aufgabe der Behörden in den Aufnahmeländer ist, besonders schutzbedürftige Personen zu identifizieren und eine Betreuung zur Verfügung zu stellen. Aber das gab es überhaupt nicht.

Wie ging es Ihnen als Sie wieder weggefahren sind?

Ich hatte eine gute Nachfolgerin und ein gutes Team aufgebaut – ich konnte es mit guten Gefühl zurücklassen. Wenn ich dann wieder in Österreich bin, denke ich: Bin ich froh, im richtigen Land geboren zu sein, wo wir in Sicherheit sind und nicht flüchten müssen. Gleichzeitig ärgere ich mich derzeit massiv über die Politik, die ein Klima der Feindseligkeit schafft. Die Geflüchteten werden wie Feinde dargestellt, die man abwehren muss. Das erste, was ich gesehen habe, als ich aus Lesbos zurück kam, war eine Werbung für die Heumilch-Kühe, die bei uns ja richtig verwöhnt werden. Und ich hatte den Eindruck, dass bei uns Tierschutz ernster genommen wird als Menschenrechte. Das finde ich sehr traurig.