Kürzlich marschierten Tausende durch die Städte, weil sie mit der Pandemie-Politik nicht einverstanden sind. Viele ohne Maske. Fast zeitgleich haben der Bundeskanzler und andere Honoratioren bei der ORF-Gala für „Licht ins Dunkel“ teilgenommen, wo die Lockdown-Regeln dem Anschein nach nicht galten.

Diese beiden Vorkommnisse lassen sich nicht miteinander vergleichen, schon allein ob der Dimensionen sowie der völlig divergierenden Intentionen der Veranstaltungen. Was diese Vorkommnisse durchaus eint, ist die Gereiztheit, mit der darauf reagiert worden ist. Gleich vorneweg: Sich in diesen Zeiten in Massen zu versammeln und die Maske dabei wegzulassen, ist extrem fragwürdig. Und die Verantwortlichen der Republik von Schallenberg abwärts zeigten bei erwähnter TV-Sendung wenig Sensibilität für die Stimmung im Land und für die Symbolkraft ihrer Handlungen.

So kritisch man solche Dinge sehen kann und muss, die Empörung, die sie auslösen, sagt viel darüber, in welcher Welt wir leben. Offenbar in einer, in der die Erregungskurven immer steiler werden, in der die digitalen Stammtische immer ohrenbetäubender brüllen, wo uns jeden Tag die Shitstorms um die Ohren pfeifen und in der man die anderen sogar mit juristischen Mitteln zum Schweigen bringen oder wenigstens abführen lassen möchte.

Die Stimmung war schon lange vor der Pandemie gereizt. Die sich verschärfende soziale Lage, der für viele normal gewordene Existenzkampf und die Idealisierung von individuellen Rechten haben eine Ellenbogen-Gesellschaft geschaffen, in der die Selbstbezogenheit geradezu verlangt wird. In einer so entsolidarisierten Welt voller überlasteter und überforderter Einzelpersonen werden andere oft als Belastung und Bedrohung wahrgenommen. Die Pandemie hat diese Gereiztheit nur noch verschlimmert.

Der Mut zur Gelassenheit ist gesunken. Bei denen, die die Demos kommentieren, von den Leuten auf den Demos ganz zu schweigen. Rein psychologisch gesehen, gäbe es ja gute Entlastungsgedanken: Demonstrieren ist ein Recht. Nicht jeder Impfskeptische ist ein Aluhut tragender Nazi. Nicht jeder Impfbefürworter ein Büttel der Pharmaindustrie. Politiker machen ihren Job, wenn sie eine karitative Initiative unterstützen. Solch heilende Gedanken sind beinahe schon verpönt: Die Empörung wird zur täglichen, erschöpfenden Pflichtübung, die unseren Geist langsam, aber stetig aushöhlt.

Vor einigen Jahren empfahl Stéphane Hessel in einem berühmt gewordenen Essay: „Empört euch!“ Er hat das anders gemeint. Ihm ging es darum, sich für andere, für Entrechtete starkzumachen. Statt einer Gesellschaft der Empfindsamkeit haben wir jedoch eine der Empfindlichkeit bekommen. Aber Demokratie heißt nicht, dass ich ein Recht darauf habe, nur mehr das zu sehen und zu hören, was ich möchte. Die Wünsch-dir-was-Gesellschaft, deren erste Sorge es ist, Rücksicht auf individuelle Vorstellungen zu nehmen, gibt es nicht.