Vor etwas mehr als einem Jahr, am Höhepunkt des ersten Lockdowns, erschien in der Zeitschrift Addendum, das der Tageszeitung ein letztes Mal beigelegt war, ein Interview mit dem großen Skeptiker und Philosophen Rudolf Burger. Beides, das Heft und der Befragte, ist nicht mehr. Burger, der vor kurzem verstarb und der Kleinen Zeitung immer wieder für Gespräche zur Verfügung gestanden war, war ein quer Denkender, als das Wort noch frei war. Er dachte unerschrocken weiter, wo andere das Weiterdenken der Konvention opferten. Er dachte gnadenlos, und blieb doch im Habitus ein Sir. Unvergesslich die schmale, silberfarbene Thermosflasche auf seinem Tisch, die Zigaretten für die Denkpausen, das Etui und die Krawatte, senkrecht wie ein Lot. Die äußere Form war ihm wichtig, auch das Äußerliche des Republikanischen. Der Lockdown und die Pandemie waren ein paar Wochen alt. Im stillen Nachlesen verblüfft, wie hellsichtig er in dieser frühen Phase, mitten im ersten großen Schrecken, die Dinge sah und einordnete.

Burger sprach von einem „Ausnahmezustand im laxen Sinn“, nicht im Sinn von Carl Schmitt, wo der Staat die ganze Ordnung aufhebt. Burger hielt die Maßnahmen der Regierung, die befristete Einschränkung der Freiheitsrechte, für „gerechtfertigt“. Nicht wegen der Gefahr für den Einzelnen, den mittelalterlich Gesunden, sondern wegen der Gefahr der Kumulation, wie Burger das explosive Wuchern nannte. Er bekannte sich als freudloser Anhänger der „Shutdown-Politik“ und knüpfte das Ja an zwei Bedinungen: „. . . wenn sie für kurze Zeit ist und früh gemacht wird“. Beides blieb im Herbst schon uneingelöst. Die frühe Radikalität nannte Burger „ausgezeichnet“, auch wenn der verstört Fragende das Attribut angriffslustig umkreiste. Kollabiere das Gesundheitssystem, kollabiere vieles andere, „dann werden die Leute unheimlich nervös, dann passiert sehr viel.“ So sprach er. Auf die Gesellschaft und ihren Zustand blickte Burger illusionslos: „In einer Gesellschaft, in der wir durch unsere Geschichte auf den homo oeconomicus mit individuellem Nutzen und Spaßmaximierung konditioniert sind, alle zu einem Solidarverhalten zu bringen, ist kein leichtes Unterfangen.“ Auch das: ein früher, luzider Befund.

Rasch erkannte er eine „Renationalisierung der Politik“, weniger der Leute, sondern der Politik. Burger fürchtete eine Delegitimation des ganzen europäischen Projekts. Dieser Schaden werde bleibender sein als der an Leib, Seele, Demokratie und Wirtschaft. Er glaube nicht an die „Permanentisierung“ der Unfreiheit und der Beschädigungen. „In zwei Jahren wird der Spuk vergessen sein“. Man könne keinen moralisch zuordenbaren Feind aufbauen, Macrons Kriegsmetapher empand Burger als Unfug. Die Natur habe keine Moral. Die Konzentration des Kapitals werde sich beschleunigen, das ja, da formulierte er marxistisch: „Viele Kleinbetriebe werden eingehen, und kapitalkräftige Ketten werden sie aufkaufen.“ Dass das Denunziantentum blühe, der schlechte Charakter, das Miese und Missgünstige, buchte Burger unaufgeregt ab, conditio humana: „So sind die Leute.“  Spektakuläre Besserungsprogramme, die große Läuterung sah er nicht aufblitzen am Horizont: „An die langfristige Veränderung in der Anthropologie glaube ich nicht.“ Noch bietet sich ein Jahr später die Gelegenheit, den Sir und seine These zu widerlegen, auch wenn die Aussichten trüb sind. In einer Talksendung machte gestern Nacht der Begriff vom „Revenge Travelling“ die Runde, Reisen aus Rache an der langen Entsagung. Die Zeiten bleiben neurotisch.

Vorgestern schickten uns die Töchter des Verstorbenen eine Einladung zur dienstägigen Beisetzung auf dem Hernalser Friedhof. Auf der Parte war ein Zitat zu lesen, keines aus dem Katalog, ein Pädoyer an die Hinterbliebenen, sich dem Dasein trotz aller Widrigkeiten zu stellen. Die Sätze stammen von Rudolf Burger selbst: „Auch was ich gegen das Leben geschrieben habe, ist für das Leben geschrieben. Auch was ich für den Tod geschrieben habe, ist gegen den Tod geschrieben“.