Es ist europäische Zeitgeschichte – und als solche noch zum Greifen nahe:
Der 10. April 1998 war ein für Nordirland und die Republik Irland, aber auch für Europa insgesamt besonderer Freitag. Das Karfreitagsabkommen, besiegelt von den Regierungen Irlands und Großbritanniens sowie von den nordirischen Parteien, brachte nach Jahrzehnten stumpfer Gewalt endlich tragfähigen Frieden. Seit den späten 1960er-Jahren hatte der bürgerkriegsartige Nordirlandkonflikt Menschen und Seelen verwüstet, für 3500 Tote gesorgt.

Ein Konflikt, eines Europas im späten 20. Jahrhundert unwürdig – mit irisch-katholischen Nationalisten auf der einen, protestantischen Loyalisten auf der anderen Seite. Das Blut von Generationen fließt – erst mit dem "Belfast Agreement Pakt" verzichtet die Republik Irland auf eine Wiedervereinigung mit Nordirland: Selbstverwaltung wird zugesagt und umgesetzt. Die Irish Republican Army, semimilitärische nordirische Organisation, legt die Waffen nieder – wenn auch erst 2007.

Die schweren Ausschreitungen, die es nun im nahe an Irland gelegenen Derry gab, sind ein überlautes Warnsignal: Im Nordwesten der nordirischen Provinz werden Molotows auf Polizeifahrzeuge geworfen. Die junge Journalistin Lyra McKee, die viel über den Nordirlandkonflikt schrieb, wird erschossen. Die Polizei ortet einen "terroristischem Vorfall" und leitet Mordermittlungen ein. Der Attentäter? Gilt als "gewalttätiger Nationalist". Schnell werden so äußerst unheilvolle Erinnerungen an "damals" wach: In eben diesem Derry starben 1972 am "Blutmontag" 13 unbewaffnete Teilnehmer eines (nicht genehmigten) Protestmarsches. Erschossen von Soldaten des britischen Parachute-Regiment.

47 Jahre später lautet das verlängerte Trauma auf der Insel: Brexit. Das in sich so gar nicht vereinigte Königreich taumelt wie ein unkontrollierbarer Satellit um seine eigene Achse und verdrehte Befindlichkeiten. Die inwendig zerstrittene Politik in Westminster scheint unfähig, den Lichtschalter und in weiterer Folge einen noch einigermaßen würdigen Ausgang zu finden. Dass als Späternte eines Austritts die Grenzbalken zwischen dem britischen Nordirland und der weiter zur EU gehörenden Republik Irland wieder niedergehen konnten, ist pures Dynamit. Ein gravierender Nebeneffekt des Austritts, der Nationalisten eine Steilvorlage gäbe. Niemandem, der einigermaßen klar bei Verstand ist, kann daran und an neuer Spaltung gelegen sein.

Europa arbeitet die großen Herausforderungen des dauerbewegten 21. Jahrhunderts bestenfalls langsam ab. Das Letzte, was der Kontinent jetzt braucht, ist das Wiederauflodern eines Konfliktes dieser Tragweite. Hat die EU bemerkt, dass paramilitärische Gruppen bereits seit geraumer Zeit Sprengsätze in Derry detonieren lassen? Wenn Brüssel über den Brexit debattiert und Ordnung von den Briten einmahnt, muss es vor allem auch nach Nordirland blicken. Jetzt. Reißt diese zögerlich verheilte Wunde wieder auf/ein, wird ein Druckverband zu wenig sein.