Manchmal, wenn es im Winter Flocken regnet, sind die Tage durchsichtig, das wusste ich schon als Kind. Je kürzer sie dauern, desto klarer leuchten sie. Sie haben eine komische Milde und hinterm Haus liegt dann immer ein Geheimnis. Es ist, als würden diese Tage sich selbst durchschauen. Sie sind transparent, sind wie aus Pauspapier. Ich erinnere mich: Ich hatte viele solcher Wintertage. Nicht alle waren gut. Gut waren die für mich, die dunkel waren. Denn die Dunkelheit machte die Tage klar. Sie gefielen mir am besten. Sie waren grau, sie dehnten sich. An solchen Tagen hat man immer Hunger und möchte an der Heizung hocken. Diese Tage erwarten die Nacht. In meiner Kindheit verbrachte ich diese Tage glücklich und mit einer Menge Bücher. Ich mochte sie, wie sie die Nacht empfingen. Ich trank dann den ganzen Tag Früchtetee und hockte vor dem Fenster. Ich träumte. Leider aber gab es auch andere Tage. Die zum Beispiel, an denen wir Ski fahren mussten. Ich war darin nicht besonders gut.

Wenn ich mich länger auf der Piste befand, fühlte ich mich, als wäre ich zu Eis geworden. Das Sesselliftfahren war mühsam. Alles begann schon beim Anstellen! Immer war die Schlange lang, immer waren die Menschen laut und störten mich bei meinen Träumen. Münder drängten sich gefährlich nahe an mich heran, Körper schoben mich durch die Gegend. Ich war klein und man übersah mich. Ich verkroch mich hinter der Skibrille, unter der Pudelmütze und hielt die Hand meines Bruders. Ich tat so, als würde ich ihn beschützen, aber in Wahrheit hatte ich furchtbare Angst. Ich schwitzte unter dem Anorak, in den ich mich eingesperrt fühlte, schwitzte und kam mir vor wie ein Astronaut, der irgendwo zwischen Erde und Mond im All hängen geblieben ist. Der kleine Bruder indes war sehr mutig. Er klebte gar nicht fest an mir, sondern ich an ihm. Dann kam der Moment: Der Lift raste heran. Ich musste mir ein Ding zwischen die Beine klemmen. Zuerst scheiterte ich daran, die Schnur zu fassen zu kriegen. Dann erwischte ich sie, schaffte es aber nicht, mir dieses seltsame runde Teil zwischen die Beine zu klemmen. Beim dritten Mal gelang mir dies zwar; doch ich blieb nicht in der Spur, sondern fiel schon nach drei Sekunden um und musste mir rasch die Ski abschnallen und wieder zu meiner Ausgangsposition zurücklaufen. Als ich es dann geschafft hatte und neben meinem Bruder vor der Skilehrerin stand, wurde jedoch nichts besser, wie ich zunächst gehofft hatte. Denn da, wo wir uns jetzt befanden, war es hoch. Verdammt hoch oben. Ich hatte Angst. Ich war ein Kind, das Höhlen liebte. Mit dem Kopf grub ich vorzugsweise Löcher in meine Polster oder schob Buchdeckel davor, und ich liebte es, mich zu verkriechen. Am liebsten lag ich mit einem Buch im Bett oder auf einer Wiese, geschützt im Schatten eines Baumes, las und träumte vor mich hin. Die einen meinten, es läge an einer Art Calcium-carbonicum-Mangel. Die anderen meinten, das wäre Hypersensibilität. Wie auch immer: Am sichersten fühlte ich mich, wenn ich mich verkriechen konnte.

So begann der erste Tag in der Skigruppe, und ich stellte mich bald schon als eine sehr untalentierte Fahrerin heraus. Ich fror, zitterte, verlor immer wieder einen meiner Stöcke und konnte mit den anderen überhaupt nicht mithalten. Ich wurde immer missmutiger. Das Einzige, was mich in diesen Tagen tröstete, war eine alte Bibel, die mir meine Oma mitgegeben hatte. Sie arbeitete damals bei einem Priester als Köchin, den ich besonders deshalb spannend fand, weil unter seinem Bett ein riesiger Nachttopf stand. So las ich am Abend Sätze wie „die Liebe höret nimmer auf“ oder „und er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich auf den Händen tragen“ und staunte darüber, auch wenn ich sie nicht verstand. Im Moment jedenfalls spürte ich wenig Liebe – ich spürte eher Angst und hatte, wenn ich den anderen Kindern auf den Ski hinterherhechelte, immer das Gefühl, nicht dazuzugehören. Engel begegneten mir in den Bergen leider auch keine, auch wenn ich immer wieder mit weit aufgerissenen Augen Ausschau hielt. Am letzten Tag schließlich war es so weit: Wir veranstalteten zum Abschluss ein großes Rennen. Ich gab mir wirklich Mühe, aber als ich die beschneiten Wipfel der Tannen sah, geriet ich ins Träumen und dachte darüber nach, ob Gott wohl irgendwo hinter dem Himmel zu finden sei. Als ich unten ankam, meinte mein Skilehrer – ein sehr schöner junger Mann, der mir wirklich gut gefiel – mit ironischem Unterton: „Der Boden brennt ja fast, so schnell bist du gerast!“ Ich schämte mich und zog den Kopf ein. Noch mehr schämte ich mich dann wenige Stunden später, als die Preisverleihung stattfand: Mein Bruder, zwei Jahre jünger als ich, wurde als Sieger auf das Podest gehoben, während ich, die Älteste der Gruppe, Vorletzte war. Nach mir kam bloß ein dreijähriger Junge. Was für eine Peinlichkeit! Natürlich rief ich brav mit allen unseren gemeinsamen Skispruch: „Hunde Hütte Hunde Hütte Heu Heu Heu“ – was auch immer das bedeutete –, aber mein Kehlkopf fühlte sich schwer und bitter an im Hals. Fast wie ein Knödel. Und das Spektakel hörte gar nicht mehr auf. Während die Medaille meines Bruders herrlich glänzte, bekam ich als Trostpreis eine Urkunde. Auf dem Podest durfte ich nicht stehen. Chips gab es danach zwar für alle, doch mir war der Appetit vergangen. Ich zog mich zurück und las ein wenig in der Bibel.

Papa, wo hört der Himmel auf?“, fragte ich meinen Vater später.
Diese Frage hatte ich mir die ganze Zeit über gestellt, während ich das Skirennen gefahren war.
„Da, wo das Weltall beginnt“, sagte er lapidar.
Ich blickte auf.
„Ich dachte, dahinter ist Gott?“, fragte ich.
Schweigen.

So verstrichen die Tage, und ich glaubte überhaupt nicht mehr an mich. Einige Tage später besuchten wir die Großmutter und den Priester, bei dem sie arbeitete. Kaum sah ich ihr Gesicht, fühlte ich mich seltsam getröstet. Sie lächelte. Ihr Blick war warm. Sie sah froh aus, glücklich darüber, dass wir alle heil vom Skifahren heimgekommen waren, und wir fielen ihr in die Arme.

„Ich habe eine Medaille mitgebracht“, rief mein Bruder.
„Großartig!“, sagte die Großmutter.

Ich betrachtete sie und dachte daran, wie lieb ich sie hatte. Ihre Haut war ein wenig faltig, die Augen aber blitzen hell und blau und sahen unendlich jung aus. Gemeinsam streiften sie ins Wohnzimmer und mein Bruder packte seine Medaille aus und zeigte sie herum. Ich starrte indessen nur stumm auf die Krippe unter dem Weihnachtsbaum. Mein Vater hatte sie einmal selbst gebastelt. So betrachtete ich die Holzfiguren und schwieg. Sie hatten scharf geschnittene Konturen und waren dünn wie Papier.

„Und du“, fragte meine Großmutter da, als mein Bruder seinen Bericht beendet hatte, „was hast du beim Skifahren erlebt?“
Ich schwieg.
Die Augen der Großmutter blitzten blau und sie zwinkerte mir zu.
„Ich hab in der Bibel gelesen ...“, murmelte ich.
Dann schwieg ich einen Moment. Immer noch schämte ich mich sehr – aber ich begriff, dass ich es meiner Großmutter schuldig war, ihr die Wahrheit zu sagen.
„Und beim Skirennen“, fuhr ich, die Lippen zu einem Strich verkniffen, fort, „war ich die Vorletzte.“
Da lächelte meine Großmutter, dass sich die Haut um ihre Augen in kleinen, wunderbaren Fältchen zusammenschob.
Verzwickt blickte ich zu Boden. Ich dachte, jetzt würde sie mich gleich auslachen. Doch meine Oma, die mich immer sehr geliebt hat, sah mich an und meinte bloß: „Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.“
Stille.
„Das ist aus der Bibel“, fügte sie schließlich hinzu.

Und dann las sie mir das Magnificat vor. Ich verstand zwar nicht alles, aber dennoch: Der Text gefiel mir. Denn es ging, wie ich begriff, sinngemäß darum, dass die Letzten von Gott erhöht werden würden. Mein Tag war gerettet.

Sophie Reyer