Still mögen die Nächte hier sein, eine davon vielleicht sogar heilig, aber die Tage, die Tage in Oberndorf sind erfüllt von profaner Betriebsamkeit, um es milde auszudrücken. Im 6000-Einwohner-Ort bei Salzburg gibt es die Stille-Nacht-Einkehr, das Stille-Nacht-Postamt, den Stille-Nacht-Shop und im Stille-Nacht-Museum kann man sich in der Stille-Nacht-Karaoke-Box als Sänger jenes Liedes versuchen, um das sich hier alles dreht: „Stille Nacht“, das vom Hilfspfarrer Josef Mohr getextete und vom Dorflehrer Franz Xaver Gruber komponierte Weihnachtslied, das vor 200 Jahren, am Heiligen Abend des 24. Dezember 1818, in der St.-Nicola-Kirche in Oberndorf seine Uraufführung erlebte.

Es klingt unpassend, im Zusammenhang mit einer Melodie, die in der Folge als Friedenslied um die Welt ging, von einem „Overkill“ zu sprechen, aber nichts anderes findet im Rahmen des 200-Jahr-Jubiläums seit Monaten statt. Von der Stille-Nacht-Praline über die App, mit der man „Wegen zur Stillen Nacht“ folgen kann, bis zur Stille-Nacht-Lokomotive wird keine Marketingschiene ausgelassen. Vor der Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf, 1937 eröffnet, herrscht ein babylonisches Sprachengewirr, in der Kapelle selbst liegen vielsprachige Liedtexte auf. Aus der Ferne kommen aber nicht nur die verzückten Asiaten und Amerikaner, wenn das Wetter nicht mitspielt, muss auch der Schnee, der die Kapelle fotoidyllisch umrahmt, importiert werden.

© APA/AFP/JOE KLAMAR (JOE KLAMAR)

All dieser unheilige Trubel sollte nicht die faszinierende Magie übertünchen, die diese berührenden Worte und diese einfache Melodie weltweit ausüben. Entstanden in dunklen Stunden zur Zeit der Napoleonischen Kriege wurde „Stille Nacht“ zum globalen Synonym für den Frieden oder zumindest die Hoffnung darauf. Als „Weihnachtsfrieden von 1914“ ging etwa folgende mythenumrankte Begebenheit in die Geschichte ein: Als Soldaten an der belgischen Westfront bei Ypres am 24. und 25. Dezember eine spontane Feuerpause einlegen und kleine Geschenke austauschen, singen die britischen, französischen und deutschen Soldaten „Stille Nacht“ in ihren drei Muttersprachen – tags darauf ging das gegenseitige Abschlachten wieder weiter.

Eine wohl allzu romantisierende Darstellung, aber ein Beleg dafür, dass das „Lied der Lieder“ auch in der Folge über alle Grenzen von Religion, Sprache und Ideologien hinweg einen empathischen Siegeszug um die Welt antrat. „Stille Nacht“ ist bei den Maori ebenso bekannt wie bei den Romani – und es funktioniert nicht nur als Weihnachtslied. Es wird immer dann gesungen, wenn Gefühle im Spiel sind. In China ist es ein Wiegenlied, in Grönland ein Begräbnislied. Zu „Stille Nacht“ wird geboren, gestorben und gebetet. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Bing Crosby „Silent Night“ in seinen Weihnachtslieder-Kanon auf, später Elvis Presley, damit war der Song auch im Pop-Himmel gelandet.

Orginal Autograph von Joseph Mohr aus dem Jahre 1816
Orginal Autograph von Joseph Mohr aus dem Jahre 1816 © APA (SALZBURGER LAND)

Von Oberndorf hinaus war der Weg in die Welt anfangs etwas holprig. „Tiroler Nationalsänger“ verbreiteten das Lied zunächst in Deutschland, europäische Auswanderer – die Wirtschaftsflüchtlinge von damals – sorgten dafür, dass es allmählich zum Welthit wurde. Komponist und Texter wurden zunächst nicht mitüberliefert, erst als die „Stille Nacht“ auch am preußischen Königshof angekommen war, schickte die Berliner Hofmusikkapelle eine Anfrage nach Salzburg, so erfuhr Franz Xaver Gruber durch Zufall, welchen „Schlager“ er komponiert hatte. Er verfasste daraufhin eine „Authentische Veranlassung zur Composition des Weihnachtsliedes ,Stille Nacht! Heilige Nacht!‘“, in der er die Entstehung des Liedes niederschrieb.

In Oberndorf neigt sich der laute Tag dem Ende zu, der Touristenstrom wird dünner, jetzt könnte die Ruhe der Nacht einkehren. Aber am ehesten findet sich die Stille ein, wenn man es selbst tut, wenn man es selbst singt: das Lied.