In Ihrem Podcast „True Crime – Die Sprache des Verbrechens“ sowie auch in Ihrem Buch „Die geheimen Muster der Sprache“ erklären Sie, wie Sie Täter über Sprachprofile überführen. Können Sie noch unbefangen E-Mails lesen, ohne sofort einen Psychopathen zu überführen?

PATRICK ROTTLER: Es ist nicht so, dass man das abstellen kann. Wenn man sich immer mit Sprache beschäftigt und analysiert, läuft das zwangsläufig auch mit, wenn man Briefe oder Mails von Freunden oder Kollegen liest. An sich ist Sprachanalyse bei Kriminalfällen aber so zeitaufwendig und ressourcenintensiv, dass sie nicht nebenbei mitläuft. Wir betonen immer wieder: Das ist kein Partyspielchen, was wir hier machen.

LEO MARTIN: 99 Prozent aller Sprachmuster, Wortwahlen oder grammatikalischen Konstruktionen sagen nichts über den Persönlichkeitstyp und die Persönlichkeitsstruktur des Gegenübers aus. Die Kunst ist es, jenes eine Prozent zu finden, das es dennoch tut. Patrick liest jedes Tatschreiben 30 bis 40 Mal und jedes Mal aus einer anderen Perspektive.

Ein Kollege brachte kürzlich einen anonymen Brief in die Redaktion mit, in dem sich jemand über den Lärm abends beschwerte. Noch relativ nett formuliert und unterschrieben mit „eure Nachbarn“. Was lässt sich da rauslesen?

MARTIN: Der erste Brief ist immer freundlich. Aber wir haben hier schon einen Klassiker, da anonyme Täter, die in der Regel Einzeltäter sind, zu 80 bis 90 Prozent in der Wir-Form schreiben. Sie wollen so ihre Identität verschleiern, aber ihrer Aussage auch mehr Nachdruck verleihen. Man kann sonst aber nur herausholen, was auch drin ist. In dem Fall kommen also Anrainer infrage, die nachts auch Lärm hören. Da haben wir schon ein geschlossenes Set, wie wir es nennen. In so einem Fall würden wir nicht schauen, was sagt dieses eine Schreiben über das Profil des Täters aus, wir würden uns von den Verdächtigen Vergleichsschreiben beschaffen.

Was genau?

MARTIN: E-Mails, Blogeinträge, Social Media. Darin würden wir nach Sprachmustern wie Wortwahl, Grammatik, Wortvorlieben schauen und vergleichen, ob es dieselben Sprachmuster aus dem Drohschreiben systematisch in einem der Vergleichstexte gibt.

Wie kommen Sie an diese Vergleichstexte?

MARTIN: In den wenigsten Fälle machen wir das selbst, auch wenn wir natürlich im Internet nach alten Einträgen recherchieren. In der Regel sind unsere Auftraggeber Unternehmer, bei denen es in den meisten Fällen um aktuelle oder ehemalige Mitarbeiter geht, die ihren Frust auslassen. Oder es geht um Kooperationspartner, die Mitarbeiter rauskicken oder in einem Bewerbungsprozess um eine Topführungsposition einen Mitbewerber wollen. Es geht also um Player, die man kennt. Da wird dann eine Person angeschossen und ein schlechtes Licht auf ihn geworfen, um ihn aus dem Rennen zu bringen. Da gibt es dann Vergleichstexte aus den Firmenarchiven.

ROTTLER: Wir beraten allerdings Unternehmer auch, wie sie an diese Vergleichstexte kommen. Das ist Teil unseres Jobs.

Durch die Öffentlichkeit, die Sie mit Ihrem Buch, dem Podcast oder auch früher im Fernsehen erzeugen, lernen Täter doch dazu, oder?

MARTIN: Verstellung gab es immer schon, aber nicht nur in anonymen Texten, sondern in der gesamten Kriminalistik. Wenn ich mit einem Handschuh eine Scheibe einschlage, kann der Kriminalist lange nach Fingerabdrücken suchen. Jeder versucht, seine Spuren zu verschleiern. Sprache läuft zu einem großen Prozentsatz unbewusst ab. Das ist ein Vorteil. Wir reflektieren nicht jede Wortwahl, Höflichkeitsform oder Anrede. Wir folgen unseren Gewohnheiten und machen, was wir immer tun.  

ROTTLER: Es gibt Klassiker bei der Verstellung. Wir haben im Buch ein Beispiel, da kommt in einem Text kein einziger Beistrich vor. Das ist eine bewusste Verstellung, die auch leicht zu identifizieren ist. Kein Mensch setzt überhaupt keinen Beistrich in einem seitenlangen Text. Oder wenn jemand eine ausländische Herkunft vortäuscht. Es gibt Standardfehler bei deutschen Muttersprachlern, wenn sie sich vorstellen, welche Fehler jemand macht, der gebrochen Deutsch spricht.

MARTIN: Du kommen alleine, zum Beispiel.

ROTTLER: Kommen bleibt im Infinitiv. Das ist ein klassischer Fehler, wenn deutsche Muttersprachler Ausländer nachahmen. Aber nicht für einen Ausländer, der Fehler im Deutschen eher aus einem bestimmten Grund macht.

Was finden Sie noch?

MARTIN: Es gibt regionale Unterschiede. Wenn bei einer Lebensmittelerpressung jemand von Feinfrost für Tiefkühlgemüse spricht, liegt die Herkunft eher in Ostdeutschland. Auch das Süd-Nord-Gefälle vor allem mit der Schweiz und Österreich ist markant. Im Norden würde man bei der Perfektbildung von „habe gestanden“ sprechen, im Süden von bin gestanden“. In Österreich spricht man von „nur mehr“ und in Deutschland von „nur noch“. Nur mehr würde in Norddeutschland niemand verwenden. Aber so viel Freunde macht uns kein Täter, dass er im Dialekt schreibt. Gleiches gilt für eine gewisse Alterszuordnung etwa vor und nach der Rechtschreibreform. Wenn in einem Brief stets statt immer verwendet wird, ist dies auch ein besonderes Merkmal, weil dies eine eher seltene Wortwahl ist.

In Ihrem Podcast beschreiben sie in den ersten Folgen die besonders spektakulären Kriminalfälle, die mit Sprachprofiling gelöst wurden. Sind im Alltag die Fälle alle völlig verschieden oder gibt es auch Standardmuster?

MARTIN: Bei der Analyse gibt es kein „Schema F“. Jeder Fall ist anders, weil Sprache hochgradig individuell ist. Wir müssen diese Individualität herausarbeiten. Wir stellen uns die Frage: Warum ist der Schreibstil in deinen Texten typisch für dich? Wir haben es in der Praxis viel mit Ehrdelikten zu tun, mit Beleidigungen, übler Nachrede, Verleumdungen. Wir haben nur wenig Fälle mit Produkterpressungen oder Terrorabwehr oder akute Bedrohung bei Entführungen. Das läuft eher über das Bundeskriminalamt.

Werden Sie dazugerufen?

MARTIN: Wir haben Anfragen von der Polizei und Sicherheitsbehörden, vor allem wenn das Bundeskriminalamt ablehnt. Die bearbeiten nur Fälle mit hoher Priorität und Katalogstraftaten.

Tauschen Sie sich aus mit anderen?

ROTTLER: Das findet auch hier in Österreich statt. Im vergangenen Jahr waren wir an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Es gibt eine kleine wissenschaftliche Gemeinde der forensischen Linguistik, die sich einmal im Jahr trifft. Da sind dann auch die Kollegen vom Bundeskriminalamt anwesend.

Haben Sie schon einmal grandios danebengelegen?

MARTIN: Wir wissen bisher von keiner Fehlanalyse, die wir gemacht hätten. Aber es kommt vor, dass am Ende nicht klar ist, wer der Täter ist. Das kann aber eine Handvoll Gründe haben. Wenn wir zum Beispiel einen oder mehrere Anonymtexte hatten und sieben Vergleichspersonen.

Wie gehen Sie dann vor?

MARTIN: Wenn man sieben Verdächtige und deren Vergleichstexte hat, findet man immer Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Uns bewegt vorrangig die Frage: Schaffen wir es, den Text so zu beschreiben, dass wir signifikante Merkmale erkennen, die man systematisch findet, und den Täter über seine Sprache zu überführen? Eventuell war unser Täter nicht dabei, obwohl einige Texte nah zusammen waren. Wir sagen dann nicht, der Verdächtige war es mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit. Meist geht es ja auch darum, zunächst andere Verdächtige auszuschließen.

ROTTLER: Es ist wichtig, dass wir Texte der gleichen Gattung haben. Geschäftsbriefe und WhatsApp-Nachrichten etwa sind schwer vergleichbar. Sprache funktioniert in beiden Bereichen völlig anders. In Whatsapp-Texten fehlt die Zeichensetzung oft völlig. Sie ist zu vernachlässigen ebenso wie die Groß-Klein-Schreibung.

MARTIN: Ein konkreter Fall: Anfang des Jahres wurde eine Familie beim Jugendamt anonym mit zwei Schreiben angezeigt. Sie hätten ihren Sohn vernachlässigt. Die Familie unterrichtete ihren Sohn im Homeschooling schon lange, bevor Corona ein Thema wurde. Der Sohn ist aus dem Grund nicht in der Schule, weil er ein Kind mit besonderen Bedürfnissen ist. Die Familie denkt, sie unterstützen ihn so, wie es für ihn am gerechtesten ist. Nun tauchten Anzeigen auf, dass eine Familie ihren Sohn vernachlässige. Der Bub sei minderbemittelt, weil er keine sozialen Kontakte habe. Die Familie sieht das aber anders und hat daraufhin ihr gesamtes Umfeld verdächtigt, darunter die engsten Kontakte wie die Mutter, die Schwester, ein guter Kollege und eine Mitbewohnerin im großen Eigentumshaus. Die waren dabei, sich ihr gesamtes Umfeld zu zerstören.

Wie konnten Sie helfen?

MARTIN: Wir konnten eine Zeitlang niemand ermitteln - am Ende war es eine Täterin, aber wir konnten sehr schnell sagen: die Mutter ist raus aus dem Kreis der Verdächtigen. Da passt Nichts zusammen, da führt kein Weg hin. Gleiches gilt für die Schwester.

Ähnliches dürfte auch in einem Unternehmen wichtig sein, oder?

ROTTLER: Allein zu wissen bei Führungskräften, mit wem man weiterhin vertrauensvoll zusammenarbeiten kann, wenn solch ein Verdacht im Raum steht, ist eine wertvolle Information.

MARTIN: Viele unserer Auftraggeber wollen auch gar kein Gerichtsverfahren, die wollen auch keine Polizei und Staatsanwaltschaft im Haus haben. Die wollen nur Klarheit haben und wissen, woran sie sind, was ihre Führungsentscheidungen betrifft.

Sprachprofiling ist eine recht junge Disziplin. Wie kam es überhaupt dazu?

ROTTLER: Der Unabomber vor 20 Jahren, der mit seinen Briefbomben fast zwei Jahrzehnte die USA in Angst und Schrecken versetzte, war der erste Falle, in dem die Sprachanalyse eingesetzt wurde. Wir erzählen diesen Fall auch in unserem Podcast. Bis dahin stellte sich nie die Frage und war auch nie die Lösung eines Falls. Bis dahin ist nie jemand auf die Idee gekommen.

MARTIN: Das ist wie einst bei der Idee nach Fingerabdrücken, Faserspuren oder auch nach DNA zu suchen.

ROTTLER: Und wahrscheinlich wäre auch nie ein Staatsanwalt oder ein Richter diesen Weg mitgegangen, darauf stütze ich irgendein Urteil. Es braucht immer erst Fälle, die beweisen, dass eine Methode funktioniert.

Ist es heute gängig?

MARTIN: Das hängt vom Gutachten ab und vom Text. Beim Fingerabdruck und bei der DANN hat man eine Treffersicherheit von 99,9 Prozent. Das ist Naturwissenschaft. Wir sind im Bereich der weicheren Gutachten. Bei uns gibt es Klassifizierungen, mit denen auch das Bundeskriminalamt arbeitet. Beim Urteil „mit einiger Wahrscheinlichkeit“ interessiert das keine Sau. Bei „hoher Wahrscheinlichkeit“ sind wir uns schon sicher, aber wir können auch verstehen, dass ein Richter, der ein linguistischer Laie ist, kritisch sieht. Beim Urteil „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ haben wir ein Argument aufgrund unserer Befunde gefunden, das auch ein Laie von außen dem Gutachten folgen kann.

Gibt es die Methode schon als festes Lehrfach in der Kriminalistik?

ROTTLER: Die Forschung beginnt jetzt so langsam. In Graz zum Beispiel entwickelt sich das gerade, in Deutschland gibt es auch einige Hochschulen, die daran arbeiten. Es gibt noch keinen Lehrstuhl, sondern nur einzelne Personen, die sich damit beschäftigen. Es sind vorerst noch einzelne Module in der Lehre.

Sie sprechen in ihrem Podcast von mindestens 20 Sprachmuster, die sich in einem Brief finden. Gibt es ein Handbuch?

ROTTLER: Nein. Es gibt auch kein Raster, das man abarbeiten kann. Es gibt nur Kategorien, nach denen man suchen kann. Das geht los bei der Textgestaltung, gefolgt von der Zeichensetzung, die Rechtschreibung, der Satzbbau, die Grammikwahl. In einem Gutachten beschreiben wir dann bis zu 200 Sprachmuster.

MARTIN: Die Sprache verändert sich ja auch im Leben. Sie sprechen als Jugendlicher anders als dann als Erwachsener. Wenn wir offiziell reden sprechen wir anders als wenn wir unter vier Augen sind. Sie sprechen anders mit Kollegen als mit ihrer Mutter. Sprache läuft innerhalb eines bestimmten Korridors ab, der aber nach dem 25. und spätestens nach dem 30. Lebensjahr sehr stabil ist. Sprache färbt ab je nach Umfeld. Darum gibt es kein Raster und auch keine festen 20 Merkmale. Unser Job ist es, eine vernüftige Belastung in ein Gutachten reinbringen. In der Praxis bedeutet es, dass wir 20 bis 30 Merkmale ausarbeiten. 

ROTTLER: Es gibt dann 20 signifikante Übereinstimmungen zwischen den Texten und überführt den Täter.

Gibt es Coldcases?

MARTIN: Die Hitler-Tagebücher zum Beispiel. Wenn wir Texte von Konrad Kujau bekommen und uns ganz langweilig ist, dann setzten wir uns hin und machen daraus einen Spaßfall.

„Die geheimen Muster der Sprache“, MVG, 240 Seiten, 14,99 Euro.
„Die geheimen Muster der Sprache“, MVG, 240 Seiten, 14,99 Euro. © Münchner Verlagsgesellschaft