Für viele Jahrhunderte war die Leitha ein Grenzfluss. Sie trennte das Königreich Ungarn vom Westen Zentraleuropas. Dieses alte Königreich, schon im Jahr 1000 gegründet, musste allerdings auf eine leidvolle Geschichte zurückblicken. Im 13. Jahrhundert verwüsteten die Mongolen das Land, und nach einer Hochblüte unter Matthias Corvinius im 16. Jahrhundert eroberten es die Osmanen. Als die Habsburger die Osmanen erfolgreich zurückdrängten, kam Ungarn unter die durchaus nicht immer geliebte Herrschaft Wiens. Der Protest entlud sich nicht zuletzt im Revolutionsjahr 1848.

Erst als die Habsburgermonarchie durch die Niederlage von Königgrätz die Vormachtstellung im deutschsprachigen Europa eingebüßt hatte, gelang es den Ungarn, innerhalb der Monarchie eine gleichberechtigte Position zu erlangen. 1867 kam es zum sogenannten „Ausgleich“. Franz Joseph war von nun an Kaiser von Österreich und gleichzeitig König von Ungarn. Das Gebiet östlich der Leitha konnte seine innere Politik nunmehr weitgehend selbstständig gestalten. Der Fluss war eine politische Grenze, aber auf beiden Seiten der Trennlinie lebten in Verbundenheit Menschen, die entweder Deutsch, Ungarisch oder Kroatisch sprachen und die entweder Katholiken, Protestanten oder Juden waren. Manches war auf der ungarischen Seite leichter. So wichen die österreichischen Sozialdemokraten 1874 nach Neudörfl jenseits der Grenze aus, um dort erstmals eine Arbeiterpartei zu gründen. Anderes war schwerer: Während man in Österreich mit der Sprachenvielfalt zu leben versuchte, setzten die Ungarn auf eine Magyarisierungspolitik.

Kaiser Franz Joseph
Kaiser Franz Joseph © APA

1918, als man als Resultat des Ersten Weltkrieges in ganz Zentraleuropa neue Grenzen zu ziehen hatte, standen sich für den Grenzverlauf zwischen den neuen Staaten „Deutschösterreich“ und Ungarn zwei Konzepte gegenüber. Da gab es den Verweis auf die „historischen Grenzen“ auf der einen, und die Grenzen nach den vermuteten Trennlinien der Ethnizitäten, worunter man damals die Sprachgruppen verstand, auf der anderen Seite. Während sich überall sonst rund um Ungarn und um Österreich die Siegermächte mit den jeweils in ihr Konzept passenden Argument durchzusetzen vermochten, ging es hier um die Grenze zwischen zwei Verlierern.

Ungarn hatte dabei die schlechteren Karten. Die Siegermächte sahen im revolutionären Experiment der ungarischen Räteregierung unter Béla Kun eine Gefahr der Ausbreitung des Bolschewismus auf die ökonomisch geschwächten Verliererstaaten Deutschland und Österreich, und da Wien dem politischen Beispiel Budapests nicht folgte, waren die Sympathien bei den Friedensverhandlungen in Paris klar verteilt. Die vier westungarischen Komitate wurden, den durchaus nicht durchgängig stichhaltigen Argumenten einer „Sprachgrenze“ folgend, Österreich zugeschlagen. Diese vorläufige Entscheidung verstärkte das ungarische Trauma von Trianon, das bis heute nachwirkt. Das letzte Wort in der Grenzziehung war aber noch nicht gesprochen. Die sprachlich-ethnische Gemengelage ließ etwa die junge Tschechoslowakische Republik davon träumen, mit dem Argument der kroatischen Bevölkerungsanteile einen Korridor in den Süden zu erhalten, also einen Zugang zum Meer. Böhmen wäre damit tatsächlich „am Meer“ gelegen. Die Oberschicht der Region tendierte eher zu Ungarn, sprach man doch, einschließlich der jüdischen Bevölkerung, eher Ungarisch als Deutsch, und die Wirtschaft war nach Osten orientiert.

Bilder aus dem Burgenland: Heimkehr von der Wildentenjagd am Ruster Kanal
Bilder aus dem Burgenland: Heimkehr von der Wildentenjagd am Ruster Kanal © (c) �NB-Bildarchiv / picturedesk.com

Teile der Region hatten aber stärkere ökonomische und kulturelle Bindungen nach Wien oder Graz. So wurde etwa schon im Dezember 1918 in Mattersburg eine nach Österreich orientierte „Republik Heinzenland“ ausgerufen, und 40 Gemeinden rund um Heiligenkreuz forderten eine Eingliederung in die Steiermark. Österreich hatte schließlich im Jänner 1921, mehr als vier Monate vor dem Vertragsabschluss von Trianon, das Burgenland durch ein Verfassungsgesetz als „selbstständiges und gleichberechtigtes Land“ mit der Hauptstadt Ödenburg in die Republik Österreich aufgenommen. Dieser formelle Akt, den man als „Geburtsstunde“ des neuen Bundeslandes bezeichnen kann, war aber von einer politischen Realisierung noch weit entfernt. Zudem hatte das Gesetz Ödenburg als Landeshauptstadt festgeschrieben.

Durch das ganze Jahr 1921 schienen aber die verschiedensten Optionen für die politische Zukunft der Region offen. Österreich versuchte durch die Einrichtung einer „Verwaltungsstelle für das Burgenland“ Tatsachen zu schaffen, aber es gab Widerstand. Zwar mussten die regulären ungarischen Truppen auf Druck der Siegermächte das Gebiet räumen, aber Freischärler leisten Widerstand und riefen am 4. Oktober 1921 in Oberwart sogar einen eigenen Staat – die „Republik Lajtabánság“ – aus, dessen Ziel die Wiedervereinigung mit Ungarn war. Die lokalen Zusammenstöße verliefen durchaus blutig. In diesen Turbulenzen spielten auch die Restaurationsversuche des ehemaligen österreichischen Kaisers und ungarischen Königs eine Rolle, und nach fünf Wochen Lebensdauer war diese Republik schon wieder Geschichte.

Bilder aus dem Burgenland: Ausfahrt zur Weinlese im Jahr 1915
Bilder aus dem Burgenland: Ausfahrt zur Weinlese im Jahr 1915 © (c) Austrian Archives / Imagno / picturedesk.com (Austrian Archives)

Am 13. Oktober 1921 schufen die Venediger Protokolle Klarheit. Die Ungarn hatten die Truppen abzuziehen und die Freischärler zu domestizieren. Das Gebiet war den Österreichern zu übergeben, aber im Komitat Ödenburg war eine Volksabstimmung vorgesehen. Diese fand am 14. Dezember 1921 in der Stadt Ödenburg und zwei Tage später in den Umlandgemeinden statt, begleitet von heftigen Propagandaschlachten und von Manipulationsvorwürfen. In der Stadt stimmte nur ein gutes Viertel der Bevölkerung für Österreich, die Landgemeinden hingegen sprachen sich mehrheitlich für Österreich aus. Insgesamt ergab das eine Entscheidung für Ungarn mit 65 Prozent. Selbst wenn man annimmt, dass ein guter Teil der Manipulationsvorwürfe berechtigt gewesen sein sollte, an der grundlegenden Entscheidung selbst würde das wenig ändern.

Nun gab es also in Österreich dieses neue Bundesland, etwas seltsam geformt, da ein Mittelteil und damit eine Hauptstadt fehlten. Als aber die Nazis knappe zwei Jahrzehnte später den Norden des Burgenlandes dem „Gau Niederdonau“ und den Süden der Steiermark zuschlugen, hatten sie nicht damit gerechnet, dass sich bereits ein burgenländisches Landesbewusstsein herausgebildet hatte. Trotz der kleinen Hauptstadt, trotz der Randlage, trotz der vielen pejorativen Witze, denen die Bewohnerinnen und Bewohner des jungen Bundeslandes ausgesetzt waren (und vielleicht noch sind). So war das Wiedererstehen des Landes in der Zweiten Republik keine Frage – und eine Erfolgsgeschichte konnte ihren Lauf nehmen.