Die Geschichte von Kwity Paye ist eine von Trauer, Tränen und Tragik. Sie handelt von Krieg, Verzweiflung, Armut, aber auch von Hoffnung und Aufstieg. Und sie hat, so viel sei vorweggenommen, ein Happy End. Es ist der Heilige Abend 1989. Agnes Paye, Kwitys spätere Mutter, ist gerade zwölf Jahre alt, als an jenem Tag in ihrem Heimatland Liberia, an Afrikas Westküste, ein Bürgerkrieg ausbricht. Rebellen der National Patriotic Front wollen Staatspräsident Samuel Doe stürzen. Es ist der Anfang von jahrelangen, brutalen Kämpfen, bei denen mehr als 250.000 Menschen ihr Leben verlieren werden. Agnes Paye gehört zum Volksstamm der Krahn, die von Machtinhaber Doe stets wohlwollend behandelt worden sind – so aber zur Zielgruppe der Rebellen werden. Als die Aufständischen in ihr Dorf kommen, erlebt das junge Mädchen grausame Szenen, die ihr 30 Jahre später noch Tränen in die Augen treiben. „Sie haben das Haus meines Vaters angezündet und das meines Onkels, samt Frau und Kindern auch. Ich habe meinen Vater nie wieder gesehen. Sie haben ihn getötet“, sagt Agnes in einem Feature des TV-Senders ESPN.

Das Dorf verwüstet, das Haus abgebrannt, der Vater tot. Doch Agnes hat keine Zeit für Trauer. Sie ist auf der Flucht. Wie Tausende andere ist sie tagelang barfuß in Busch und Wäldern unterwegs, meidet aus Angst vor den Rebellen die Hauptstraßen. „Wir hatten kaum etwas zu essen. Aber daran denkst du gar nicht, denn du willst einfach nur überleben“, wird sie 2019 in der „Detroit Free Press“ zitiert. Agnes schafft es ins Nachbarland Sierra Leone, kommt dort in einem Flüchtlingscamp unter und bringt Jahre später ihren ersten Sohn, Komotay, zur Welt. Als sich der Bürgerkrieg von Liberia auf Sierra Leone ausdehnt, muss sie wieder flüchten, diesmal nach Guinea. Am 19. November 1998 wird sie erneut Mutter. Wieder ist es ein Sohn. Sie nennt ihn Kwity – es ist der Name ihres ermordeten Vaters. In Guinea kann die Familie nicht bleiben, zurück nach Liberia will Agnes auf keinen Fall. Ihre einzige Hoffnung sind die USA. Im Frühjahr 1999 ziehen die drei zu Verwandten nach Rhode Island an die amerikanische Ostküste.

„Meine Mutter wollte, dass mein Bruder und ich eine Zukunft haben – und dafür hat sie alles getan“, sagt Kwity. Doch das neue Leben im neuen Land ist hart. Agnes hatte in Liberia nie lesen und schreiben gelernt, muss dies nachholen, um ihren Kindern überhaupt bei den Hausaufgaben helfen zu können. Obwohl sie zeitweise drei Jobs gleichzeitig hat, ist Geld immer knapp und die Familie auf Sozialhilfe und Lebensmittelmarken angewiesen. Ablenkung vom tristen Alltag bietet der Sport. Kwity ist ein guter Athlet, vor allem auf dem Footballfeld kaum zu stoppen. Egal, ob die Trainer ihn als Defensive End in der Verteidigung einsetzen oder als Runningback im Angriff, das Flüchtlingskind aus Afrika überragt alle. In der achten Klasse hat er die Chance, an eine prestigeträchtige High School zu wechseln, die für ihr Football-Programm bekannt ist. Doch die Kosten von 15.000 Dollar entsprechen der Hälfte von Agnes’ Jahreseinkommen. Kwity verspricht seiner Mutter, wenn sie ihn auf die High School lasse, brauche sie später nichts für seinen College-Platz zu bezahlen. Agnes willigt ein.

In Amerika ist es üblich, dass Jugendliche mit besonderen Talenten Stipendien bekommen, sollte die Familie ein Studium nicht finanzieren können. Und Kwity ist ein besonders begabter Footballspieler. In seinem letzten High-School-Jahr gibt es in Rhode Island kein größeres Nachwuchstalent als ihn. Er bekommt zahlreiche College-Angebote und entscheidet sich für Michigan. „Mama, wir haben es endlich geschafft“, ruft er bei seiner feierlichen Aufnahme Agnes zu. Er hat sein Versprechen gehalten, doch sein Aufstieg geht noch weiter. Das College ist das Schaufenster zur National Football League (NFL). Deren Scouts werden bald auf den bulligen 1,91 Meter großen und 118 Kilogramm schweren Verteidiger aufmerksam. Als die 32 NFL-Vereine bei der Draft die besten Nachwuchsspieler unter sich aufteilen, sitzt Kwity Paye am 29. April mit Verwandten und Freunden vor dem Fernseher. Für 20 Spieler hat sich der NFL-Traum bereits erfüllt. Dann klingelt Kwitys Telefon. Am anderen Ende meldet sich Chris Ballard, Manager der Indianapolis Colts. „Wir werden dich gleich auswählen und freuen uns sehr auf dich. Du verkörperst alles, wofür auch wir stehen“, sagt Ballard.



Als Kwity auflegt, bricht großer Jubel aus. Kurze Zeit später teilt NFL-Commissioner Roger Goodell bei der TV-Liveübertragung einem Millionenpublikum mit, dass sich „die Indianapolis Colts an 21. Stelle für Kwity Paye, Defensive End aus Michigan“ entschieden hätten. Paye posiert mit einer liberianischen Fahne um seine Schultern vor der TV-Kamera. In seinem rechten Arm hält er liebevoll seine Mutter. Auf die Frage, was sich für die Familie nun ändern werde, antwortet Kwity umgehend: „Mama hat genug gearbeitet, sie kann jetzt in Rente gehen. Ich werde sicherstellen, dass sie all das bekommt, was sie nie hatte, und dass sie nie wieder einen Finger krumm machen muss.“ Mittlerweile hat der 22-Jährige in Indianapolis einen Vierjahresvertrag unterzeichnet, der einen Wert von 13,6 Millionen Dollar hat. Nun muss der Vollständigkeit halber gesagt werden, dass viele NFL-Verträge nicht garantiert und seitens des Vereins jederzeit kündbar sind. Doch in einem solchen Fall hätte Kwity Paye zumindest die 7,3 Millionen Dollar für seine Vertragsunterschrift sicher.