Im November war mir die Stadt, in der ich aufwuchs, immer am liebsten. Wenn der Hochnebel die Berge ringsum einhüllte, die dicke Luft die Gespräche dämpfte, als läge man gemeinsam unter einer Decke. Wenn der See und der Himmel dieselbe Farbe hatten, ein undurchdringliches Grau in vielen Schattierungen. Wenn im Wald das feuchte Laub an den Schuhsohlen haften blieb. Und die Schwermut, die über allem lag, die Leichtigkeit des Sommers Lügen strafte. Dann kam ich gerne zu Besuch. Dann fühlte ich mich plötzlich wieder ganz zu Hause. Dann war es so, als wäre ich nie fort gewesen. Nicht so diesen November. Denn dieses Jahr war alles anders. Lockdown im ganzen Land bedeutete auch, alle Reisetätigkeiten auf das Notwendigste zu beschränken. Sehnsucht gilt nicht. Noch dazu gehören die Verwandten praktisch alle zur sogenannten „Risikogruppe“. Niemals würde ich es mir verzeihen, sie in Gefahr zu bringen. Bei ihnen zu wohnen ginge also keinesfalls.

Seitdem klar ist, dass wir nicht mehr kreuz und quer durchs Land fahren sollen, ertappe ich mich immer öfter bei einem fast kindlich selbstsüchtigen Anspruchsdenken, was den Ort betrifft, an dem mein Elternhaus steht. Als gäbe es ein Recht darauf, jederzeit dorthin zu fahren, wo man aufgewachsen ist. Wann immer einen die Sehnsucht hinaustreibt, durch das alte Viertel zu spazieren, in dem man die ersten Schritte getan hat. Auf der Suche nach bekannten Stellen, die mit den Jahren ohnehin immer weniger werden. Auf der Birkenwiese, wo wir uns heimlich zum Rauchen trafen, steht jetzt ein Block mit chicen Eigentumswohnungen. Der alte Supermarkt, auf dessen Parkplatz ich Rollschuh fahren lernte, ist jetzt eine Consultingfirma. Das Haus meiner Freundin aus Kindertagen, in dessen Garten wir ihren Hund malträtierten, weil er partout keine Kunststücke lernen wollte, haben sie überhaupt abgerissen. Stattdessen steht dort ein grellgelber Neubau einer Jungfamilie mit adrett aussehenden Kindern, die sicher niemals einen Hund quälen würden. Ich hasse dieses Gelb. Dabei hat es mir wirklich nichts getan.

Wir glauben, die Dinge bleiben so, wie wir sie verlassen haben. Aber das tun sie nicht. Es wäre auch ein seltsam konservativer Anspruch. Soll alles so bleiben, wie es immer war? Nur damit man es wiederfindet? Die Stadt, in der ich aufwuchs, ist ja nicht nur ein Museum meiner Erinnerungen. In den vergangenen Jahren war sie vor allem ein Ort der Trauer. Besuche an Krankenbetten, Besuche in Heimen, Besuche der Kirche zur Trauermesse. Irgendwann war es so düster, dass ich den Eindruck hatte, ich komme nur noch zu Begräbnissen nach Hause.
Vom alten Freundeskreis ist auch kaum jemand übrig. Die einen sind längst weggezogen, zu den anderen gibt es keinen Kontakt mehr. Eine Freundin von damals hat den Bauernhof ihrer Eltern übernommen und daher nur selten Zeit. Wenigstens schreiben wir uns manchmal. Wenn ich sie aufheitern möchte, schicke ich ihr ein Foto vom kärglichen Sträußchen halb welker Petersilie, das ich im Bio-Shop ums Eck meiner Wiener Wohnung gekauft habe. Um 2 Euro 30. Viele lachende Gesichter sind die Antwort.

"Und die Schwermut, die über allem lag, die Leichtigkeit des Sommers Lügen strafte"
"Und die Schwermut, die über allem lag, die Leichtigkeit des Sommers Lügen strafte" © (c) Juhku - stock.adobe.com (JuhaniViitanen)

Eine andere Freundin hat uns für immer verlassen. Gehirnblutung, sie ist einfach umgefallen, haben sie erzählt, von einem Moment auf den anderen. Sie war so alt wie ich. Als ich letztes Jahr in der Abenddämmerung durch den Europapark ging, sah ich uns wieder gemeinsam unter den Bäumen sitzen, Tequila trinken aus Plastikbechern. Und als ich weiterspazierte, an der Lend entlang, und abbog zum See, wo man nun sommers wie winters an den Stegen des Strandbads vorbeiflanieren konnte, hatte ich sie plötzlich vor mir in ihrem roten Badeanzug. Wie sie mit Anlauf ins Wasser sprang. Wie sie lachte. Wie sie „Erste!“ schrie. Bevor das Wasser sie schluckte. Das war nicht ausgemacht, dachte ich mir, als ich auf die ruhige Oberfläche des Sees blickte. Dass ich jetzt allein hier stehe.

Wir glauben, die Menschen werden dort auf uns warten, wo wir uns von ihnen verabschiedet haben. Aber das können sie nicht. Nachdem er gestorben ist, bin ich auch einmal zur Gurk gefahren und in die Ortschaft spaziert, in der mein Vater aufgewachsen ist. Früher war sie ein kleines Dorf. Eine Kirche, ein paar Häuser, ein großer Hof. Der Bauer war derjenige, der allen Arbeit gegeben hat. Meiner Großmutter, ihren Schwestern, ihrer Mutter, ihrem Vater. Er war es, der bestimmen konnte, wer etwas werden durfte und wer nicht. Als mein Vater die Hauptschule abgeschlossen hatte, wollte er weiter zur Schule gehen, maturieren. Der Bauer war dagegen. Wozu brauchte der Sohn der Tagelöhner eine Matura? Er sollte etwas lernen, am besten bei ihm. Der Pfarrer hat sich für ihn eingesetzt, schließlich durfte mein Vater gehen. Heute ist das Dorf ein beliebter Wohnort für Familien aus der Stadt. Die Kinder des Ortes gehen in jene Schulen, die sie sich aussuchen. Es ist doch gut, dass es nicht mehr so ist, wie es lange war.

Ich denke jetzt oft an meine Großmutter, die Großtanten, die Urgroßmutter. Ich stelle mir vor, wie deren Leben als Magd gewesen sein muss. Wovon sie geträumt haben, was sie sich wünschten, was sich davon erfüllt hat. Was weiß man schon von jenen, die vor einem da waren? Man hat nicht mehr von ihnen als ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto in einem verstaubten Album. Wie oft nimmt man es zur Hand und sucht darin etwas, mit dem man sich verbunden fühlt? Eine Ähnlichkeit, das gleiche Lächeln, die gleichen Augen?

Vielleicht ist es das, was mir fehlt. Wovon ich mich abgeschnitten fühle, jetzt, wo ich nicht einfach jederzeit nach Hause kann. Die alten Wege gehen zu können, um jenen nahe zu sein, die nicht mehr da sind. In der Zeit zurückzugehen, aus der Gegenwart zu flüchten, zur Ruhe zu kommen. Gedanken nachhängen zu können, die nicht von außen bestimmt werden durch das, was gerade um uns geschieht.
Doch in diesem Jahr wird nichts mehr daraus. Reisetätigkeiten sollten auf das Notwendigste beschränkt werden. Sehnsucht gilt nicht. Vernunft ist momentan wichtiger als Gefühl. In diesem Jahr ist alles anders. Kein Kärntner Nebel. Kein Innehalten auf den alten Wegen. Kein See für mich.

* Die Kärntnerin Barbara Kaufmann lebt und arbeitet als Autorin und Filmemacherin in Wien.