Sie lieben Möwen? Möwenschwärme, die morgens und abends laut schreiend ihre Kreise über den Dächern ziehen, wie in fernen, stillen Städtchen am Meer? Zu einem stillen Städtchen am Meer ist Venedig seit dem Karnevalssamstag geworden. Nicht die Fehler einer halsbrecherischen Stadtentwicklung haben zu dieser Stille geführt, sondern die grausame Coronakrise, die die Welt noch monate-, wenn nicht jahrelang gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch beschäftigen wird.

Am Karnevalssamstag trat ich früh aus dem Stadtkrankenhaus, mein Mann lag nach einem wundersam überstandenen Herzinfarkt auf der Intensivstation und vor dem Café am Campo San Giovanni e Paolo rief der Zeitungsbote die Titelzeile aus: „Il Carnevale è annullato!“ Das war bisher erst einmal vorgekommen, zum Bosnienkrieg 1993, und damals war die Stadt verstummt, abrupt, von einem Tag auf den anderen. Ich ging zwischen eilig kofferziehenden Menschengruppen nach Hause zur Punta della Dogana zurück. Nahe der Akademie stand ein Harlekin in authentischer Maske, inmitten von Abreisenden. Seine Haltung, die schöne Gestik der Commedia dell’Arte, die keiner Worte bedarf, sagte: „Wo gehen sie hin, die Menschenmassen?“ Die Stadt ist seither, wie Sie sie noch niemals gesehen haben. Auch ich nicht.

„Wo gehen sie hin, die Menschenmassen?“
„Wo gehen sie hin, die Menschenmassen?“ © Jana Revedin

Ich bin Ende der 1980er-Jahre nach Venedig gekommen, meine Mailänder Architektenfreunde, mit denen ich im Büro von Aldo Rossi arbeitete, sagten mitleidig: „Jetzt zieht sie ins Dorf.“ Denn Venedig hatte, außer einem scheinbar endlos gewinnbringenden Massentourismus, nichts zu bieten. Keine Arbeit, keinen leistbaren Wohnraum, keine lebendige Gesellschaftsstruktur. Allein eine damals noch weltbekannte Architekturuniversität. Und die genügte mir, neben dem jungen Marineoffizier, der mich heiraten wollte. Wenn ich montagmorgens früh zum Zug nach Mailand ging oder donnerstagabends sehr spät zurückkam, hörte ich vielleicht ein paar Vögel in den Gärten singen. Doch Möwen hörte ich nie. Sie sind heute in die Stadt zurückgekehrt, weil sie wieder Raum zum Leben haben. Sie fischen in den Kanälen, deren Lagunenwasser wie durch Zauberhand transparent geworden ist, sie schmettern die Tintenfische auf die steinernen Fondamente, damit sie sie bis auf den Knochen verspeisen können. Zurück bleibt ein großer schwarzer Tintenfleck. Haben Sie solche Tintenflecke je bemerkt?

Die Möwen sind die Stadt zurückgekehrt
Die Möwen sind die Stadt zurückgekehrt © (c) APA/AFP/ANDREA PATTARO (ANDREA PATTARO)

Zum Modewort unter Architekten wird neuerdings die „resiliente“, die poröse, die inklusive, die anpassungs- und widerstandsfähige Stadt. Dieser Trend ist in Wahrheit ein betagtes geografisches Konzept, Johann Heinrich von Thünen beschrieb 1842 die „resiliente Stadt“ als den selbstversorgenden Kreislaufmetabolismus, der keine Ressourcen von außen braucht und seine Umwelt nie belastet. Erst heute, wo wir fast acht Milliarden Menschen auf dem Erdball zählen, besinnen wir uns auf dieses weitsichtige Konzept, auf den dem Menschenmaß angepassten Lebensraum. Eine Stadt nach Menschenmaß haben die Venezianer jedoch schon vor eineinhalb Jahrtausenden eigenhändig und meisterhaft erbaut, von San Pietro di Castello im Osten bis zum Angelo Raffaele im Westen.

Die resiliente Stadt par excellence wuchs aus ihren geografischen und geologischen Vorgaben als Versteck vor Barbareneinfällen und als sicherer Naturhafen in einem überaus fruchtbaren Inselarchipel heran, und war mit 200.000 Einwohnern die dichtestbesiedelte Stadt des Mittelalters. Dank einer klugen „offenen“ Politik, die ihr die Handelsvormacht sicherte, vereinte sie Ethnien wie Religionen, Unternehmer wie Entdecker und Erfinder. Sie wusste mit regelmäßigen Hochwassern zu leben, mit den Kräften des Meers, des Windes, der Sonne, mit der fragilen Geologie ihres sandigen Untergrunds. Seit dem Untergang der Republik verlor sie zwar an Reichtum, hielt aber dem infrastrukturellen Fortschritt und dem steigenden Lebenskomfort der letzten 150 Jahre stand. Bis zum Karnevalssamstag besuchten jährlich 30 Millionen Besucher die Stadt. Wollen Sie das Verhältnis ausrechnen? Wir sind kaum 40.000 Einwohner.

Und doch kehrt das Menschenmaß seit einem Jahrzehnt in die Stadt zurück. Auf der Architekturbiennale 2008 erbaute ich mit Wiener Studenten das Palettenhaus als Aufruf zu leistbarem Wohnraum, der dieser Stadt so fehlt. Die „New York Times“ bezeichnete den Recycling-Prototyp als die „Architektur der neuen Einfachheit“. Seither scheint mir Venedig seinen ursprünglichen Besuchertyp, den „Reisenden der neuen Einfachheit“, wiederzufinden. Nicht die seit den 1980er-Jahren eingeschleusten Millionen von Schnelldurchlauf-Touristen, nein, gute Gäste, die lange bleiben, die wiederkehren, ja sogar in einen Wohnsitz investieren, um die Stadt zu erleben. Denn auch die Renaissance der Lagune hat sich pünktlich eingestellt, Agritourismus ist das Konzept, und jede kleinste Insel unseres weiten Archipels ist darin eingebunden.

In Venedig muss man Zeit mitbringen
In Venedig muss man Zeit mitbringen © (c) APA/AFP/ANDREA PATTARO (ANDREA PATTARO)

Man erreicht die Fischtrattorien, die Wein- und Gemüsegärten mit dem Ruderboot, mit dem Linien-Vaporetto, mit dem Rad, zu Fuß. Zwar muss man Zeit mitbringen, doch dafür wenig Geld. Genau wie in den frühen 1920er- Jahren, nach dem Ersten Weltkrieg, der die gesamten Ländereien des Veneto zerstörte und die Spanische Grippe im Schlepptau führte. Damals erfand eine Gruppe heimischer Visionäre die Stadt am Meer, die wir aus unseren Kindertagen kennen. Die heruntergekommene Ruine der Romantik war schnell vergessen, ein neues Publikum reiste von sehr weit hierher. Denn man erlebte Kultur und Natur, vereint in einer einzigartigen Kulisse! Die Biennale schuf Raum für progressive Kunstformen, der Film zog ein, der Ausdruckstanz, das experimentelle Theater. Gleichzeitig wurde der Lido zur „Natur-Insel“, die man schwimmend, rudernd, golfspielend oder sportfliegend, jedenfalls aber aktiv und in Bewegung eroberte.


In den vergangenen Tagen und Wochen leben wir die Stadt zu Fuß. Jeder kennt jeden in der Schlange vor dem Gemüseschiff. Jeder lächelt, auch mit Maske und trotz der allseits schwelenden Ängste und Bedrängnisse. Man ist aufmerksam, man hilft, man kann warten. Vielleicht ist in einigen Wochen, wenn die Virusgefahr hoffentlich gebannt sein wird, all das weggewischt? Die Nähe, die Stille, die zeitlose Zeit? „In der Krise“, wie Einstein sagt, „werden Erfindungsgeist, Entdeckungen und die großen Strategien geboren.“ Europa, das sich gegenüber den Natur- und Gesellschaftseinbrüchen des globalen Südens so sehr in Sicherheit wähnte, wird sich heilsam infrage stellen. Denn: Was macht uns aus? Was schätzen wir wert? Wie verbunden sind wir? Auf Venedig umgesetzt: Wird sich ein öder Massentourismus samt seiner himmelschreienden Kreuzfahrtschiffe von selbst erledigen? Wird sich die Stadt verjüngen dürfen, Arbeit bieten, nachhaltigen Lebensraum? Wird sie zum neuen resilienten Stadtmodell? Palmsonntagmorgen, ich schaue hinaus in meinen kleinen Garten, die Möwen ziehen ihre Runden, und trotz des kühlen Nordwinds blühen die ersten Kamelien.

Autorin Jana Revedin
Autorin Jana Revedin © Gernot Gleiss