Dass das Fensterln noch einmal so eine Renaissance erlebt, hätte man sich im Jahr 2020 auch nicht mehr gedacht. Und ganz ehrlich, das hätte sich auch keiner in irgendwelchen Romanen jemals wieder ausgedacht, denn die Kommunikationsfenster werden in einer digitalisierten Welt in Richtung Internet aufgestoßen. So kann man sich irren. Da steht also ein junger Mann auf der Straße und winkt ein bisschen in David-Bowie-Manier wie der Mann, der vom Himmel fiel, nach oben. Kommunikation zwischen Menschen im Frühjahr 2020. Das klingt alles ein bisschen verrückt, utopisch und dystopisch. Und es klingt sehr nach Realität.

Über 700 solcher Bilder, die das Alltagsleben in der Krise nachzeichnen, wurden bereits an das Wien-Museum geschickt, darunter auch jene, die auf dieser Seite abgebildet sind. Es gilt, Objekte zu dokumentieren, die diese Zeit jenen erklären, die in den nächsten Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten auf dieses Heute, das dann „damals“ sein wird, zurückblicken, so Matti Bunzl, Direktor des Wien-Museums: „Momente der Krise sind immer auch Momente der historischen Veränderung. Das ist die Aufgabe unseres Museums: Diese Dinge zu sammeln, nachvollziehbar zu machen und zu erklären, was das für die Menschen bedeutet hat.“

Der ganz normale Alltag - keine Sozialkontakte
Der ganz normale Alltag - keine Sozialkontakte © Wien Museum/Sabrina Halkic

Auch wenn viele der Dinge nach einer humoristischen Aufarbeitung dieser Zeit aussehen, so haben sie eine enorme zeitgeschichtliche Bedeutung: „Mir wäre es natürlich lieber gewesen, wenn es nicht passiert wäre, aber wir erleben hier Geschichte“, ordnet Bunzl das, was wir jetzt erleben, ein.
Das unterstreicht auch Birgit Johler vom steirischen Landesmuseum Joanneum, die für die Neuaufstellung der volkskundlichen Sammlung ebenso einen Aufruf gestartet hat: „Das Virus selbst ist unsichtbar, aber durch diese Objekte, Dokumente und Notizen wird dieser Alltag jederzeit wieder sichtbar.“

Nicht nur das, die Objekte sind vor allem auch Botschafter ihrer Zeit, wie etwa eines der Lieblingsobjekte von Matti Bunzl – ein gehäkeltes Virus. Und es gibt weit mehr her, als nur putzig zu sein: „Wir leben in einem Zeitalter, wo die meisten Menschen über biologische Strukturen Bescheid wissen. Eine Darstellung wie diese ist in der Medizingeschichte etwas völlig Neues. Wenn wir uns die Abbildungen der Pest anschauen, die wurde oft dämonisiert, weil sie nicht verstanden wurde. Heute ist das medizinische Verständnis ein ganz anderes.“

Bitte unbedingt den Abstand einhalten
Bitte unbedingt den Abstand einhalten © Wien Museum/Reinhard Beilner



Was sich noch aus der Krise ablesen lässt, ist die enorme Hilfsbereitschaft, die sich in den vielen Zetteln nachbarschaftlicher Hilfsangebote widerspiegelt. Ob das auch nach der Krise bleibt, wie der Mund-Nasen-Schutz? Gerade Letzteres ist für Bunzl nicht ausgeschlossen, auch wenn das so gar nicht unserem Kulturkreis entspreche. Ist es möglich, dass wir auch nach der Pandemie in bestimmten Situationen Mundschutz tragen? „Für mich ist das durchaus vorstellbar. Es ist natürlich ein Kulturwandel, aber das Geniale an der Spezies Mensch ist, dass wir unglaublich adaptiv sind.“ Auch, weil es jetzt schon massiv unseren Alltag bestimmt, so Birgit Johler vom Volkskundemuseum: „Wir sind auf Schritt und Tritt gefordert, diese Schutzmaßnahmen mitzudenken und zu befolgen. Das beschäftigt uns jeden Tag.“ Ebenso hält Kulturwissenschaftler Bunzl eine nachhaltige Änderung in unseren Begrüßungsritualen, wie etwa das bislang übliche Bussi-Bussi, für möglich.

Ein Facebook-Posting kann kein Objekt ersetzen

Eines zeigt sich für Bunzl wie für Johler in der Krise: die Macht der Digitalisierung. Dass viele Menschen von heute auf morgen ihre Arbeit ins Homeoffice verlegt haben, genauso wie eine radikale Umstellung unserer Kommunikation: „Die für mich positiven Seiten der digitalen Welt erlauben es mir, nicht einsam zu sein, weil ich das Gefühl habe, dass im Grunde die ganze Welt auf meinem Handy ist“, so Matti Bunzl. Für Johler wird das Thema rund um die Tracking-App noch spannend: „Es ist interessant, wie sich der Diskurs Woche für Woche verändert.“
Apropos Digitalisierung: Die Bilder, die nun eingeschickt werden, dienen nur der Sichtung, danach sollen die realen Objekte in die Sammlung aufgenommen werden, denn eines gibt der Direktor des Wien-Museums Bunzl zu bedenken: „Wir sind zwar von digitalen Formaten umzingelt, aber die Chance, dass wir Facebook-Posts von 2020 im Jahr 2120 auch noch lesen können, die ist relativ klein. Wir brauchen Objekte, die die Zeit überdauern.“