Herr Eckart, wenn Sie als Medizinhistoriker die aktuelle Lage betrachten, welche Vergleiche zu früheren Pandemien können Sie ziehen?
Wolfgang U. Eckart: Da gibt es ganz viele vergleichbare Muster: das Horten und Hamstern, die Stigmatisierung von Kranken und von vermeintlichen Verursachern durch Verschwörungstheorien, die Quarantänebildung, wie etwa beim Abriegeln der Städte in Italien, von Hotels oder Kreuzfahrtschiffen. Nicht zuletzt die Sequestrierung (Isolierung, Anm.) durch den Rückzug in die Privatwohnung, die sieht man jetzt sehr gut.

Pandemien sind immer auch gesellschaftliche Zäsuren, was hat der Mensch daraus gelernt?
Wolfgang U. Eckart: Auf die Stadthygiene hat die Cholera etwa maßgeblichen Einfluss genommen. Auch weil man anfing, sie zu kontrollieren, wie etwa mit dem Ausbau der Kanalisation in London. Auch weil heute Händewaschen wieder die Parole ist: Die Popularisierung der Hygiene, auch das kommt aus dem 19. Jahrhundert. Nicht ohne Grund fällt die Volksbadeanstaltsbewegung der 1900er-Jahre im Fin de Siècle mit den letzten Auswirkungen der Cholera zusammen.



Welche Maßnahmen, die früher zur Bekämpfung angewandt wurden, finden wir auch heute noch?
Wolfgang U. Eckart: Die Quarantäne haben die Venezianer erfunden. Mit einem großen Quarantänelager im 14. Jahrhundert, das auf einer vorgelagerten Insel vor Venedig errichtet wurde. Dort wurden die Besatzungen der Kauffahrtsschiffe, die aus dem näheren und fernen Osten, aber vor allem aus dem Schwarzmeerbereich kamen, festgesetzt, und zwar für 40 Tage, also Quaranta. Aber es galt auch, die Ratten fernzuhalten, die auf den Schiffen waren, obwohl man den Zusammenhang zwischen Ratten und Erkrankung damals noch gar nicht gesehen hat.


Gab es auch Versuche, die Grenzen zu schließen?
Wolfgang U. Eckart: Österreich-Ungarn hat das im 18. Jahrhundert vorgemacht, mit einem über 1000 Kilometer langen Kordon, mit dem man die österreichisch-ungarische Grenze nach Osten hin gegen die Pestzüge abriegeln wollte. Auch die Preußen haben das gemacht, als die asiatische Cholera kam. Sogar mit hygienischen Auffangstationen, indem die grenzüberschreitenden Händler bis auf die Leibwäsche und sogar die Briefe kontrolliert wurden.

Der italienische Schriftsteller Giovanni Boccaccio hat schon im 14. Jahrhundert unter dem Eindruck der Pest die zersetzende Wirkung der Seuche auf die Gesellschaft beschrieben.
Wolfgang U. Eckart: Viele Schreiber haben es ganz ähnlich berichtet, wie die städtischen Gesellschaften unter dem Eindruck der Seuche zerbröseln. Wie die Werte, auch die christlichen, zusammenbrechen. Aber auch, wie die Lebenden noch Feste feiern, man weiß ja nicht, ob man den nächsten Tag noch erleben wird. Boccaccio beschreibt auch, wie sich die Sexualität verändert, die Tabugrenzen fallen, das ist ein spannendes Muster. Das kann man auch in den späteren Seuchenzügen sehen.

Sind diese Verhaltensweisen auch heute noch aktuell?
Wolfgang U. Eckart: Es gibt ganz ähnliche Reaktionstypen, die mit einer paradoxen Kompensation des Gefahrenerlebens zu tun haben. Die einen sind exaltierter, während andere hingegen in völlige Depression verfallen und sich ein- und somit auch wegschließen.

Die Menschheit hat ein kurzes Gedächtnis, heißt es. Wird die Corona-Pandemie nach dem Ablaufen ebenso schnell auch wieder vergessen sein?
Wolfgang U. Eckart: Was man jetzt schon sagen kann, ist, dass dieses Ereignis sicherlich für einige Jahre im kollektiven Gedächtnis bleiben wird. Auch weil die Politik so massiv darauf reagiert und die Maßnahmen sehr einschneidend sind. Man ist alarmiert in einer Art und Weise, wie ich das selber vorher noch nie erlebt habe.