Es gibt eine Fernsehaufnahme von 1978, die Ursula von der Leyen mit ihrer Mutter und ihren vier Brüdern volksliedsingend zeigt. Während der älteste Bruder wie ein typischer Teenager genervt und peinlich berührt die Arme verschränkt und die drei kleineren Geschwister unsicher hin- und herschaukeln, trällern Teenager-Tochter Ursula und Mutter Heidi-Adele Albrecht mutig und stimmgewaltig vor sich hin.

Vater Ernst Albrecht sitzt stolz auf der Sendungscouch, wo er zuvor persönliche Fragen beantwortet hat. Er ist seit zwei Jahren nach einem Überraschungscoup im Landtag Ministerpräsident von Niedersachsen und seine Familie hat den Umzug von Brüssel nach Hannover lange verdaut. Albrecht verlässt nach einer langen Karriere in Brüssel unter anderem als Kabinettschef für den deutschen EWG-Kommissar Hans von der Groeben die heimliche Hauptstadt der Schokolade, die für seine Tochter Ursula zur Geburtsstadt wurde. Dorthin, wohin sie am 1. November als Kommisionspräsidentin der Europäischen Union zu ihren Wurzeln zurückkehren wird.

Schicksalsschlag für die Familie

Nicht verdaut ist von der Familie hingegen ein Schicksalsschlag. 1971 stirbt Ursulas zwei Jahre jüngere Schwester Eva-Benita mit elf Jahren an Lymphdrüsenkrebs. Wie sehr sie diese Erfahrung geprägt und stark gemacht hat, darüber spricht sie erst, als sie bereits ein Jahr Familienministerin ist und selbst sieben Kinder hat wie ihr Vater und ihr Bruder Hans-Holger Albrecht. Als Ernst mit 84 Jahren stirbt, hat er 30 Enkelkinder. Familie ist wichtig und auch die Musik.

Aber eben nicht nur Volkstümliches. 1986 lädt Bruder Barthold die Toten Hosen mit Campino zum Familienfest ein. Es wird ein wüster Abend, schreiben die Biografen. So wüst, dass der Ministerpräsident nach anfänglichen Freundlichkeiten die Truppe brüllend hinauswirft.

Der moderne Mann an ihrer Seite

Ursula hat da bereits einige Semester Archäologie in Göttingen und einige in Volkswirtschaft in London hinter sich gebracht und stand nach 20 Semestern kurz vor dem Staatsexamen in Medizin in Hannover. Der Aufenthalt in England war allerdings nicht freiwillig. Der Landesvater hatte sein „Röschen“ nach der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer 1977 durch Terroristen der Roten Armee Fraktion unter einem Pseudonym ins Ausland geschickt. Göttingen schien zu gefährlich für jene Frau, die später das Verteidigungsministerium führen wird.

Der Vater prägt, ist bis heute Vorbild. Es ist ein öffentliches Leben, in dem sie groß wird und von klein auf den professionellen Umgang mit Medien mitbekommt. Und dennoch schirmt der Politiker seine Familie auch ab, so wie sie es bei ihren sieben Kindern getan hat.

„Was ich bereue, ist, dass ich ihn nicht genügend nach Politik gefragt habe in den wachen Zeiten“, sagt von der Leyen, als sie kurz nach dem Tod des Vaters im Dezember 2014 über das Aufräumen des Dachbodens im Familienhaus bei Hannover spricht. Sie erfährt von seinem Tod beim Truppenbesuch in Afghanistan. Ihr Vater litt da schon Jahre an Alzheimer. „Mit meiner Erfahrung jetzt hätte ich gerne noch einmal mit ihm gesprochen“, sagt sie beim Durchblättern alter Manuskripte.

Die erste Verteidigungsministerin Deutschlands

Da ist sie noch die Mutter der Kompanie. Es ist der zweite Titel. Als Familienministerin erhielt sie den ersten: Mutter der Nation. Wie sie die neunköpfige Familie mit dem aufreibenden Job unter einen Hut bringt – trotz externer Helfer und ihrem vier Jahre älteren Mann Heiko Echter von der Leyen, der wie sie ausgebildeter Mediziner ist und das Rampenlicht meidet oder genervt über sich ergehen lässt –, wird sie oft gefragt.

Ihr Mann lebt mit ihr ein gleichberechtigtes Familienmodell, das sie als Ministerin auf den Weg bringt mit Maßnahmen, die bis heute als ihre größten politischen Erfolge gelten. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf über mehr Krippenplätze und eine stärkere finanzielle Ausstattung, damit Väter in der Elternzeit daheimbleiben.

Ganz am Anfang der politischen Karriere als frischgebackene Landesministerin sei ihr die Doppelrolle am schwersten gefallen, betont sie. Da hat sie bereits Jahre in der medizinischen Praxis hinter sich und als Gynäkologin viele fremde Kinder auf die Welt geholt.

Vertraute von Angela Merkel

2005 dann holt sie die neue Kanzlerin Angela Merkel an ihre Seite. Sie, die oft kühl und preußisch diszipliniert wirkt, erwirbt sich schnell den Ruf, eine Alleskönnerin zu sein. Als enge Vertraute von Merkel gilt sie als natürliche Nachfolgerin der Kanzlerin. Doch ihr Ruhm schwindet schleichend. Das Verteidigungsministerium mit all seinen Pannen bekommt sie nicht gebändigt. Und 2015 dann ereilt sie der Vorwurf, sie habe in ihrer Doktorarbeit geschummelt. Am Ende darf sie den Titel behalten, weil man ihr nur „eine gewisse Schlampigkeit“ attestiert. Das nagt an der Frau, die immer nach Perfektion strebt. In Brüssel dürfte sie ihre Paraderolle wieder ausspielen können. Denn in der Art, Politik zu vermitteln, hat sie Perfektion längst erreicht.