Menschen und Orte, davon bin ich überzeugt, wachsen in ihre Namen hinein. So befindet sich etwa das Institut für Sexualforschung in der Lustkandlgasse, während in der Hardeggasse eine Firma für gefärbte Ostereier ist. Wenn man in Wien zum Rundfunk will, muss man an der U-Bahn-Haltestelle Taubstummengasse aussteigen. Die Vorturnerin der Nation hieß Ilse Buck, die Wetteransagerin trägt den Namen Kummer und der schnellste Witzereißer heißt, kein Schmäh, Chmelar, womit er auch Vorsitzender einer Weight-Watchers-Gruppe sein könnte. Der Bierpapst hört auf den Namen Seidl und der Wiener Häuptling (Altbürgermeister) trägt den Namen Häupl. Es gab den legendären Ausspruch eines deutschen Theatermachers: „Das Frauentheater ist nun nicht mehr am Fleischmarkt, sondern in der Drachengasse. Das ist eine Sackgasse.“ Und Wien selbst? Was bedeutet es? Wie in, also so wie woanders? Oder Wind? Wein?



Ich habe Wien immer geliebt. Das Schlampige, den Zuckerguss, die Patina, die hier auf allem liegt. Ich habe immer schon gewusst, dass ich hier leben will, es mich mit jeder Faser herzieht. Wenn man mich aber nach einem Lieblingsort frägt, passe ich. Gut, es gibt Sehenswürdigkeiten, den Friedhof der Namenlosen und den Böhmischen Prater, den Narrenturm oder die Sophienalpe. Den Nordbahnhof und die Kaffeehäuser, aber nichts, das pars pro toto für alles steht, weil alles irgendwie dazugehört.

Der Wiener Prater
Der Wiener Prater © APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)



Im Lied heißt es Wien an der schönen blauen Donau, aber erstens ist die Donau niemals blau und zweitens liegt die Stadt gar nicht am Fluss, sondern nur an einem dünnen Nebenarm, dem sogenannten Kanal, der die Innenstadt vom ehemaligen Judenviertel, der Mazzesinsel, trennt. Vor zwanzig Jahren war dieser Donaukanal, in den auch das Rinnsal namens Wienfluss mündet, eine mit Gstätten umgebene Kloake. Mittlerweile ist er hip, von teuren Lokalen gesäumt, mit künstlichen Sandstränden im Sommer und Eislaufflächen im Winter.
Der Kanal imitiert die Donau ebenso wie die Votivkirche den Stephansdom. Im späten Mittelalter fand hier das Bäckerschupfen statt, eine Art Waterboarding für betrügerische Handwerker. Am östlichen Ende waren früher die Färber, Gerber und Abdecker angesiedelt. Die älteste Kirche findet sich in der Nähe des Kanals und vor zweihundert Jahren wurde hier der Räuberhauptmann Grasel aufgehängt. Heute sieht man Jogger, Skater, Sprayer.

Die Donau in Wien
Die Donau in Wien © APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)



Wien ist ein großes Dorf mit Innenstadt, dazu Stephansdom, Kapuzinergruft und Zentralfriedhof. Wien, wo der Tod angeblich so eine große Rolle spielt, es nichts Wichtigeres gibt als die schöne Leich und das Begräbnis erster oder zweiter Klasse. So ist Josef II., der einzig aufgeklärte Habsburger-Kaiser, letztlich gescheitert, weil er den Wienern die schöne Leich wegnehmen wollte und einen Sparsarg mit Sack und gekalkter Leiche einführte. Aber wie ist Wien wirklich? Ein morbides, barock verschnörkeltes Punschkrapferl, das immer noch im alles zuwuchernden Backenbart Franz Josephs hängt? Sind die Bewohner der lebenswertesten Stadt der Welt tatsächlich morbid? Oder sind sie in Wirklichkeit weltoffen und modern?

Wiener? Gibt es sie überhaupt? Gut, es gibt Walzer, Würstchen, Schnitzel, Apfelstrudel und Sachertorte, dieser wie mongolische Erde trockene Schokokuchen. Aber Menschen? Ist nicht die Mehrheit zugezogen? Wien speist sich seit Jahrhunderten mit Menschen aus Böhmen, Galizien, dem Balkan, der Türkei und Leuten aus den alpinen Gegenden Österreichs, die in die Hauptstadt kommen, um hier so zu reüssieren, dass sie als gemachte Leute zurück in ihre Heimat gehen können. Was den wenigsten gelingt, die meisten bleiben, wie man sagt, hängen. Wien ist ein Golfplatzloch, erst unscheinbar, kommt man, einmal drinnen, nie wieder heraus. Und die Zuwanderer, die in dieses Loch Gepurzelten, versuchen besonders so zu sein, wie sie glauben, dass die Einheimischen sind. Zuwanderer sind wie Transvestiten, die das Weibliche bis zur kitschigen Verzerrung übertreiben.

In Restösterreich ist der Wiener unbeliebt, was in ländlichen Gebieten auf den schwarzen Tafeln vor den Wirtshäusern zum Ausdruck kommt, wo immer „Schweins-Wiener!“ steht, womit man offiziell zwar das falsche, aus Schweinefleisch geklopfte Wiener Schnitzel meint, tatsächlich aber seine Missachtung gegenüber den Hauptstädtern zum Ausdruck bringt.
Schweins-Wiener! Diese abgrundtiefe Verachtung geht so weit, dass man nur zufrieden ist, wenn die oft als Einheimische verkleideten Wiener Gäste am Ende entnervt über so viel unbegründete, nur am Wienertum festgemachte Unfreundlichkeit sagen: „Nächstes Mal schicken wir euch gleich das Geld und bleiben selbst zu Hause.“ „Schweins-Wiener!“, wird ihnen dann hinterhergeflucht.

Eine Institution: das Wiener Schnitzel
Eine Institution: das Wiener Schnitzel © APA/GüNTER R. ARTINGER

Die Ahnen der meisten Wiener haben vor ein, zwei Generationen noch am Land gelebt, in unwirtlichen, von Murenabgängen und Überschwemmungen bedrohten Gegenden, in denen man nur Gummistiefel oder feste Schnürschuhe tragen kann. Ist das der Grund, weshalb in Wien kaum jemand richtig gehen kann? Die meisten fühlen sich in leichten Halbschuhen unwohl, und ihr trippelnder, nur die Fußballen belastender Schritt gleicht dem einer Chinesin, der man jahrelang die Füße abgebunden hat. Auch ist der Wiener etwas schlampig, um nicht zu sagen, ungepflegt. Er ist grantig, skeptisch und prinzipiell dagegen. Würde man die Wiener darüber abstimmen lassen, ob Wien überhaupt existieren soll, sie wären dagegen.

New York, Tokio, Buenos Aires, Paris und viele andere Metropolen haben kein eigentliches Zentrum. Demgegenüber steht Wien, dieses große Dorf, das man am Land verniedlichend Weandorf nennt, mit seinem zentralen Kirchplatz auf der Seite von Mexico City, Moskau und Rom. Ob diese Zentrumsfixiertheit auch etwas über die Bewohner sagt, weiß ich nicht. Vielleicht müssen sich die Wiener einfach an diesem Zentrum festhalten, weil sie selbst nicht mehr Zentrum sind. Während sich eine wirkliche Metropole überlegen ausbreitet, sich selbst genügt und überall Zentrum ist, kreisten die letzten großen Wiener Stadt-Diskussionen um das Sackerl fürs Gackerl und die Fußgängerzone in der neuerdings nur noch Mahü abgekürzten Mariahilferstraße.

Der Amtsschimmel? Nein, ein Lipizzaner
Der Amtsschimmel? Nein, ein Lipizzaner © APA/GEORG HOCHMUTH (GEORG HOCHMUTH)

Wien ist ambivalent, großstädtisch und dörflich zugleich. Der Donaukanal mit seinen Lokalen und verankerten Schiffen, mit vergitterten Sportplätzen, sogenannten Käfigen, und besprühten Wänden, mit hochpreisigen Restaurants und Schlafstellen für Obdachlose bietet eine gute Gelegenheit, die Stadt in all ihren Nuancierungen kennenzulernen.
Wien ist die Hauptstadt der Seele und des Raunzens, vielleicht auch die Hauptstadt der Verdrängung. Hier kann man über alles reden und dann geht es meist doch immer irgendwie. Wien ist hintergründig, nein, hinterfotzig. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Das Wahrzeichen von Wien ist die Reblaus, nein, der Adler. Oder doch der Amtsschimmel? Aber sind die Wiener wirklich so? Oder doch ganz anders? Wien? Ich liebe diese Stadt. Aber ob sie tatsächlich die lebenswerteste der Welt ist? Wenn Sie einen Wiener fragen, wird er lachen und den Kopf schütteln. Aber wehe, Sie sagen ihm, dass es woanders schöner ist. Wien ist wunderbar, aber ob seine Bewohner diese Stadt verdient haben, steht auf einem anderen Blatt.

Autor Franzobel
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