Herr Roetzel, Sie sind Stammgast auf der Pitti Uomo, der weltgrößten Messe in Sachen Herrenmode, welche Trends sind für den Herbst/Winter 2019/2020 zu erwarten?
BERNHARD ROETZEL: Bei den geschneiderten Sachen gibt es ein großes Comeback der klassischen Designs. Bei Sakkos etwa Hahnentritt, Fischgrät, große Muster und schwere, griffige Stoffe wie etwa Tweed. Es gibt sogar ein Comeback des kompletten Tweedanzugs. Bei den Farben gibt es in diesem Bereich viel Sandton, viel Braun wie etwa Milchkaffeebraun, Cappuccinobraun oder Schokoladenbraun. Auch der Mantel ist nach wie vor ein Riesenthema. Mäntel in allen Varianten, in allen klassischen Formen.

Seit Jahren nimmt die Sportswear auch im Alltag zu, welche Entwicklungen gibt es hier?
BERNHARD ROETZEL: Bei der Sportswear wird weiterhin Funktionalität mit klassischen Materialien interpretiert, also nicht mehr nur der Outdoorlook mit Synthetikstoffen und Goretex, sondern eine klassische Interpretation im Sinne englischer oder amerikanischer Jagdbekleidung aus den 40er- und 50er-Jahren.



Vor einigen Jahren noch ein No-Go, mittlerweile regt die Jogginghose außerhalb der eigenen vier Wände niemanden mehr groß auf. Im Gegenteil, der Trend „Athleisure“, also Sportswear als Alltagskleidung, lässt sich nicht mehr aufhalten. Nervt Sie das?
BERNHARD ROETZEL: Ich sehe das ehrlich gesagt alles sehr sachlich. Ich wundere mich eher, denn man beobachtet überall in Europa – auch im immer hochgelobten Italien –, dass die Maßstäbe dafür, womit man sich in die Öffentlichkeit begibt, sehr unterschiedlich zu sein scheinen. Das lässt sich auch gar nicht am Alter festmachen. Es ist so, dass man Leute in der Fußgängerzone, im Restaurant, in der Hotellobby teurer Hotels sieht, die mit einer völlig ausgeleierten Jogginghose, T-Shirt und Flip-Flops herumlatschen. Das Kriterium, ich möchte mit meiner Kleidung Respekt anderen gegenüber ausdrücken, scheint bei vielen Leuten nicht mehr zu existieren.

Bernhard Roetzel in einem Hemd von Venturini und einem Blazer von Michael Possanner
Bernhard Roetzel in einem Hemd von Venturini und einem Blazer von Michael Possanner © Jan Hemmerich


Kleidung war immer auch ein Teil gesellschaftlicher Konventionen, wann kam es zur Demokratisierung von Mode?
BERNHARD ROETZEL: Die hat bereits nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt. Erst einmal dadurch, dass in den meisten europäischen Ländern der Hof als Maßstab für höfische Kleidung verschwunden ist. In kürzester Zeit verschwand damit ein riesiger Kosmos an Kleidervorschriften komplett. Auch die Kirche hat damals noch gewisse Regeln vorgegeben. Benimmregeln, eine Struktur des Tages oder der Woche, wo man Sonntag in die Kirche gegangen ist und sich in gewisser Weise noch gekleidet hat. Auch Familienfeste gaben Regeln vor. Seit den 1960er-Jahren und vor allem in den letzten zehn, zwanzig Jahren sind diese Regeln immer unwichtiger geworden.

Ihr Buch „Der Gentleman“ gehört zum Standardwerk in Sachen Herrenmode. Doch ein Gentleman ist weit mehr als nur seine Kleidung, wie schaut ein Gentleman der Jetztzeit aus?
BERNHARD ROETZEL: Der Begriff hat sich gewandelt, weil sich die Gesellschaft gewandelt hat. Zum Gentleman gehört eine gewisse Zurückhaltung, eine Unaufgeregtheit, Selbstbeherrschung. Aber natürlich ist das Bild des Gentleman für mich mit einer gewissen Kleidung verbunden. Wenn ich ein Sakko trage oder einen Blazer mit Goldknöpfen oder die berühmt-berüchtigte Barbour-Jacke: Diese Kleidungsstücke haben als Motto draufstehen: „Ich will nicht zur Masse gehören.“ Das heißt jetzt nicht, dass jemand mit einer Jogginghose nicht der netteste Mensch der Welt sein kann, aber zu diesem Gesamtpaket gehört für mich die Kleidung dazu. Genauso wie die Tischmanieren.



Wie wählen Sie selbst Ihre Garderobe aus? Nach Laune oder nach Bedarf?
BERNHARD ROETZEL: Es gibt eine Grundgarderobe, einen Grundstock, der je nach Jahreszeit variiert. Die Hauptentscheidung ist: Gehe ich aus oder sitze ich zu Hause am Schreibtisch? Im Winter habe ich Cordhosen an, Oberhemden und Pullover. Wenn ich rausgehe, trage ich ein Sakko, ob Krawatte oder nicht, das ist launenabhängig. Im Sommer ist es das Gleiche in Grün. Immer ein Oberhemd, eine leichtere Hose, aber immer ein Sakko. Bei beruflichen Anlässen schaue ich genau, ob es jetzt ein Anzug oder eine Sakko-Hose-Kombination mit Krawatte sein soll. Das sind alles Entscheidungen, die sich binnen Sekunden oder Minuten vollziehen, denn ich habe das alles im Kopf. Ich bin sozusagen mein eigener Kammerdiener.



Was sollte in keinem Männer-Kasten fehlen?
BERNHARD ROETZEL: Das absolute Minimum für mich sind immer Oberhemden und ein, zwei, drei Paar gute Schuhe. Viele junge Leute haben dann Jeans oder Chinos dazu an. Manche Leute brauchen vielleicht nicht einmal einen Anzug. Aber mit einem Oberhemd ist man immer gut angezogen.
Und die maximale Variante, also der Grundstock für alle Lebenslagen?
Ein dunkelgrauer oder dunkelblauer Fresco-Anzug, einreihig mit Weste oder zweireihig, oder einreihig ohne Weste, in schwerem Stoff und in einem leichteren Stoff – damit hat man ganz viele Anlässe abgedeckt. Mit einem leichten karierten Sakko und einem Leinen-Seide-Sakko und ein, zwei Tweed-Sakkos in verschiedenen Gewichtsstufen kann ich noch einmal einen Riesenbereich abdecken. Dann vielleicht noch ein Marine-Blazer. Schuhe: einen schwarzen Oxford, einen braunen Brogue, einen Schlupfschuh. Wenn ich Bedarf habe: einen Smoking oder Frack, vielleicht noch einen Cutaway. Einen Wollmantel in Braun, einen dunklen Mantel. Und ganz wichtig: Pullover in Lambswool oder Kaschmir.



Sie sind seit zwei Jahren auf Instagram, wie wichtig ist diese Plattform für Sie und Ihre Arbeit?
BERNHARD ROETZEL: Als Recherchequelle sehr wichtig. Ich habe in den letzten zwei Jahren dadurch weltweit ganz neue Firmen kennengelernt. Heute kann sich so ja jeder kleine Schneider, der irgendwo sitzt, weltweit bekannt machen. Und es ist für mich ein wichtiges Kommunikationselement der Eigenwerbung geworden. Ich habe viel Spaß an Instagram, weil man auf einen Schlag wirklich Tausende Leute erreicht.

"Der Gentleman" von Bernhard Roetzel
"Der Gentleman" von Bernhard Roetzel © Ullman Verlag