Colm O’Gorman war 13 Jahre alt, als der Papst das letzte Mal nach Irland kam. Es war das Jahr 1979. O’Gorman erinnert sich an eine Messe im County Galway mit 300.000 Jugendlichen, bei der Johannes Paul II. rief: „Junge Leute Irlands, ich liebe euch!“ Er habe den Satz damals von ganzem Herzen geglaubt, schreibt O’Gorman. Aber im Jahr darauf sei er das erste Mal von einem katholischen Priester missbraucht worden. „Er hat uns nicht wirklich geliebt, sonst hätte er uns geschützt“, sagt O’Gorman über den Papst. Stattdessen habe er die Kirche, ihre Macht und ihren Reichtum bewahrt. O’Gormans Bericht erschien vor Tagen in der Onlineausgabe der irischen Zeitung „The Journal“. Jetzt besucht zum zweiten Mal ein Papst Irland.

Papst Franziskus reist am kommenden Wochenende zum katholischen Weltfamilientreffen nach Dublin. Dessen Thema lautet „Das Evangelium der Familie – Freude für die Welt“. Doch im Vorfeld des Treffens drängt ein ganz anderes Thema vehement an die Oberfläche: der Missbrauch durch Mitglieder des katholischen Klerus und dessen Vertuschung. In den USA kamen dieser Tage gleich mehrere Skandale auf, in Australien stehen hohe Kleriker vor Gericht. Auch in Irland haben infolge zahlreicher Skandale viele Katholiken das Vertrauen verloren. Die „emotionale Erwartung an den Papst ist sehr hoch“, weiß man im Vatikan.

Colm O’Gorman hat für Samstag, den Tag der Ankunft von Franziskus, zu einer Mahnwache in Dublin aufgerufen. „Es ist 24 Jahre her, dass ich den Mut fand, von meinen eigenen Erfahrungen von Vergewaltigung und Missbrauch zu berichten“, schreibt er in „The Journal“. Er hätte nicht gedacht, dass es nach so langer Zeit noch notwendig sei, seine Stimme zu erheben. „Papst Franziskus hat die Macht, alles zu verändern“, behauptet O’Gorman. Doch das Vorgehen des Papstes in Sachen Missbrauchsbekämpfung ist umstritten.

Wiederholt mahnte Franziskus zu „null Toleranz“, traf Betroffene und richtete eine Kommission zum Kinderschutz ein. Insbesondere seine Aktionen bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der chilenischen Kirche kostete den Papst viel Kredit. Zunächst bezichtigte Franziskus Opfer der Verleumdung, weil diese einen Bischof der Mitwisserschaft beschuldigt hatten. Nachdem Vatikan-Ermittler die Vorwürfe untersucht hatten, machte der Papst eine Kehrtwende und entschuldigte sich. Die chilenischen Bischöfe boten ihren Rücktritt an. Der Papst fährt einen Zickzack-Kurs.
Erst vor Wochen enthob Franziskus zwei ranghohe Kleriker ihrer Würden. Ende Juli nahm er den Rücktritt des Erzbischofs von Adelaide, Philip Wilson, an. Der 67-Jährige war von einem Gericht in Australien verurteilt worden, weil er 1976 den Kindesmissbrauch eines Priesterkollegen vertuscht haben soll. Vor Tagen entließ der Papst auch den ehemaligen Erzbischof von Washington und Newark, Theodore McCarrick, aus dem Kardinalskollegium. Der 88-Jährige soll Jugendliche vor 50 Jahren zum Sex gezwungen haben. Die Vorwürfe waren im US-Klerus offenbar seit den 90er-Jahren bekannt.

Die Reaktionsschnelle des Papstes im Fall McCarrick sticht auch deshalb heraus, weil Franziskus einem anderen ranghohen und umstrittenen Prälaten gegenüber weiterhin Milde walten lässt. In Australien steht der 77-jährige Kardinal George Pell vor Gericht, weil er in den 70erJahren sexuell übergriffig geworden sein soll. Der Leiter des vatikanischen Sekretariats für Wirtschaft wurde von Franziskus beurlaubt. Eine endgültige Entscheidung über seine Zukunft in der Kirche will der Papst erst nach einem Urteil treffen.
Zuletzt machten die Ergebnisse einer Untersuchungskommission im US-Bundesstaat Pennsylvania Schlagzeilen. Nach der Öffnung kirchlicher Archive stellten Ermittler fest, dass mehr als 300 katholische Priester in sechs Diözesen seit den 1940er-Jahren mehr als 1000 Kinder missbraucht hatten. In der Kritik steht auch der heutige Erzbischof von Washington, Donald Wuerl, weil er früher Bischof in einer der betroffenen Diözesen war. Es könnte ungemütlich werden für Franziskus in Dublin.

Der irische Ministerpräsident Leo Varadkar
Der irische Ministerpräsident Leo Varadkar © APA/AFP/PAUL FAITH



Der irische Ministerpräsident Leo Varadkar kündigte im Vorfeld an, den Papst bei dessen Höflichkeitsbesuch direkt auf das Thema Missbrauch anzusprechen. Viele Iren sind wütend und enttäuscht und halten den Missbrauchsskandal der katholischen Kirche in ihrem Land für nicht genügend aufgearbeitet. 2009 stellte eine Untersuchungskommission fest, in 250 katholischen Bildungseinrichtungen sei Vergewaltigung zwischen den 1930er- und den 1990er-Jahren „weitverbreitet“ gewesen. Missbrauchsbetroffene forderten ein Treffen mit Franziskus in Dublin, weil die Kirche in Irland ihren bereits verabredeten Entschädigungszahlungen von 128 Millionen Euro weiterhin nicht vollständig nachkomme.

Im Vatikan ist man sich sicher, dass Franziskus wie oft auf seinen Auslandsreisen auch in Dublin mit Opfern sexuellen Missbrauchs durch den Klerus zusammenkommen werde, allerdings in privater Form. Auch auf der offiziellen Agenda des Weltfamilientags ist ein Programmpunkt der Missbrauchsprävention vorbehalten. Am Freitag ist eine einstündige Podiumsdiskussion zum Thema geplant. Der Moderator der Veranstaltung, Kardinal Sean O’Malley, Erzbischof von Boston und seit 2014 Vorsitzender der päpstlichen Kinderschutzkommission, musste seine Teilnahme kurzfristig absagen. Vorgänge im Bostoner Priesterseminar machten seine Anwesenheit in den USA notwendig.