An einem Ort, an dem das Ungewöhnliche gewöhnlich ist, wäre es fast nicht aufgefallen: ein dunkler Schatten, 40 Meter lang, der Turm über neun Meter hoch. Man will ja nicht kleinlich sein an einem Ort, an dem Größe - von der Brieftasche bis zum Ego - anders als anderswo gedacht wird. Es ist aber doch aufgefallen. Wohl, weil es erstens ein U-Boot war und zweitens in einem See auf 1768 Metern über dem Meeresspiegel auftauchte.

Letztlich war das Boot eine Idee des Schweizer Künstlers Andreas Reinhard. Aber Kunst ganz ohne Attraktion? Nicht in St. Moritz, das Schifflein musste auch zweckmäßig sein. Der Standard für Zweckmäßigkeit heißt hier Luxus. Und so wurde das Kunstwerk zur Champagner- und Sushi-Bar. Diese Begebenheit zeichnet ein eindeutiges Bild: Hier in St. Moritz braucht es schon ein U-Boot im See, um als Besonderheit klassifiziert zu werden. Und hoch klassifiziert wird hier fast alles: Sterne für Hotels, Hauben für Lokale, Perlen für Champagner. Letzteres auch zum Atmen, denn die trockene Luft erinnert an Champagner, so die Tourismuswerbung. Man ist ja schließlich nicht irgendwo, sondern - Achtung! Nachfolgendes ist markenrechtlich geschützt - am „Top of the World“.

St. Moritz-Dorf und ein Stück vom St. Moritzersee
St. Moritz-Dorf und ein Stück vom St. Moritzersee © bill_17/Fotolia

So falsch ist das nicht, St. Moritz im Schweizer Oberengadin (Kanton Graubünden) ist vor allem im Winter malerisch. Ein kleiner Ort in einem Hochtal, daneben ein See, rundherum Berge, zum Darüberstreuen mehr als 320 Sonnentage im Jahr. Dass man diese Kulisse nicht touristisch nutzen kann, wollte auch der ortsansässige Hotelier Johannes Badrutt nicht glauben. Also pokerte er 1864 mit vier britischen Sommergästen hoch: Kommt im Winter zurück, bleibt gratis, solange ihr wollt, und wenn es euch nicht gefällt, zahle ich die Rückfahrt. Das Happy End war vorprogrammiert: Die Herrschaften blieben von Weihnachten bis Ostern. Der Grundstock für eine erfolgreiche Winterdestination war gelegt.

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Rasante Veranstaltung am See: das White Turf
Rasante Veranstaltung am See: das White Turf © APA/EPA/ARNO BALZARINI

Doch dieses Fundament allein reichte nicht, man wollte Maßstäbe setzen: erster Ort mit elektrischem Licht (1878) oder erster Skilift der Schweiz (1935). Man wollte anders sein als die anderen. Das machte St. Moritz zunehmend interessant für eine ganz spezielle Spezies mit Tendenz zur Flucht: die High Society. Passt das Habitat nicht, ist der Jaguar ab durch die Mitte. Aber St. Moritz ist nicht nur geographisch abgeschottet wie ein Hortus conclusus, ein geschlossener Garten. Die echte Mauer ist viel mehr ein typisches Schweizer Versprechen: „Wir leben die Diskretion.“ Ein Mantra, das St. Moritz auch heute noch zum Shangri-La von Schön und Reich macht.

Vom Royal bis zum Hollywood-Star

Streng genommen stören Skifahrer hier nur, auch wenn St. Moritz Teil des Skiweltcups ist, zwei Mal Austragungsort von Olympischen Spielen war und jetzt wieder die Ski-WM beherbergt. Die wahren Winter-Vergnügungen sind Polo und das Pferderennen White Turf - beides auf dem See, wohlgemerkt. Nirgendwo sonst findet man im Februar eine höhere Promi-Dichte: vom Royal über den Hollywoodstar bis zum Industriemagnaten. Nirgendwo weisen die Pelzmäntel ein ähnlich hohes Volumen auf wie die Berge rund um das Tal. Nirgendwo wird die Trias Luxus, Lifestyle, Lebenslust mit mehr Intensität gefeiert als am St. Moritzersee.

Gunter Sachs mit seiner späteren Ehefrau Mirja Larsson  (links)
Gunter Sachs mit seiner späteren Ehefrau Mirja Larsson (links) © AP

Dass St. Moritz noch immer diesen Nimbus trägt, ist nicht zuletzt der Verdienst von Gunter Sachs: Der Industriellensohn war die Galionsfigur des Jetset der 70er-Jahre. Seine ihm zugeschriebenen Merkmale klingen nach heutiger Lesart fast noch einen Tick aufregender: #playboy #künstler #brigittebardot #models #draculaclub. Letzterer 1970 von ihm gegründet, erzeugte selbst unter den oberen Zehntausend einen Wunsch, den man sich mit Geld nicht kaufen konnte. Denn das Motto des Clubs war: „Drin ist, wer in ist.“ Und wer drin war, war top. Da konnte es passieren, dass Eliette von Karajan mit dem Schah von Persien die Nacht durchtanzte.

Mit Exklusivität punkten

Dass sich St. Moritz diese Strahlkraft noch bewahrt hat, ist auch das Werk harter Vermarktungsarbeit. Die Zeiten, als der Jetset eine unbändige Sehnsucht nach einem Leben außerhalb der Norm entfachte, sind vorbei. Nicht zuletzt ist es der gestiegene Wohlstand unserer Zeit: Was heute Alltag ist, nämlich dass selbst der Diskonter Champagner zu leistbaren Preisen anbietet, war damals undenkbar. Auch, dass man mit dem Billigflieger zu leistbaren Preisen mehrmals täglich nach Mallorca fliegen kann.

Die harte Jetset-Währung, die es zu bewahren gilt, heißt Exklusivität. St. Moritz hat das früh erkannt und auf das richtige Pferd gesetzt. Die laufen direkt am See um die Wette, dort wo schon ein U-Boot ankerte. Alltäglich schaut anders aus.