Das Weite suchen. Der Begriff bekommt hier eine ganz neue Dimension. Sibirien ist nur ein Teil Russlands und trotzdem das größte Land der Erde. 10 Millionen Quadratkilometer – da passen Europa und die USA hinein. Und die Fläche von Belgien, die könnte man im Baikal versenken. Er ist zwar nicht der größte, dafür aber mit mehr als 25 Millionen Jahren der älteste und mit 1642 Metern der tiefste See und damit das wichtigste Süßwasserreservoir der Erde. Weil er jedes Jahr um ein paar Zentimeter wächst, vertreten manche Wissenschaftler die These, dass hier ein Meer entsteht.

Das heilige Meer. So nennen die Sibirjaken den Baikal auch ohne Gütesiegel der Forschung. „Sein Wasser wird aus 400 Meter Tiefe abgepumpt und ist so sauber, dass man es trinken kann“, weiß Tourguide Natascha und teilt es abgefüllt in Plastikflaschen aus. Ob man hier im Sommer auch baden kann? „Da muss man schon ein chinesischer Tourist sein.“ Diese sollen künftig noch zahlreicher nach Listwjanka kommen, wenn es nach dem einen oder anderen Regionalpolitiker geht: Wo der Fluss Angara aus dem See fließt, träumt man von Baikal City.

Man will sich das gar nicht vorstellen und beobachtet lieber die drolligen, im Winter bestens fettgepolsterten Baikalrobben. Nur eine der endemischen Arten des hiesigen Ökosystems: Mehr als die Hälfte der Pflanzen und Tiere, die rund um den See leben, kommen auch nur hier vor. Einer davon ist der Omul, den man hier an jeder Straßenecke trifft. Meist geräuchert. Der Kaviar des lachsverwandten Fisches ist eine Delikatesse, sein Fleisch Lebensgrundlage für die Landbevölkerung der Region.

Das Leben in Sibirien ist hart. Bis heute. Frühling, Sommer und Herbst gehen hier wie in Zeitraffer vorüber. Mit dem ersten Grün ringen Landbewohner und Städter auf ihren Datschen dem Boden alles an Obst und Gemüse ab, um mit eingekochten, eingesalzenen wie eingelegten Vorräten über den Winter zu kommen. Im April kann man es kurz vor dieser Explosion förmlich knistern hören. Aber vielleicht ist es auch nur das Eis auf dem See, das einen vom Strand von Listwjanka zwar noch weit auf das Wasser hinausträgt, aber langsam den Kampf gegen die Sonnenstrahlen verliert. Deshalb bringt uns ein Luftkissenboot an das gegenüberliegende Ufer von Port Baikal.

Hier könnte man zu dieser Jahreszeit die Fortsetzung des postapokalyptischen Kinoklassikers „Mad Max“ drehen. Das Museum der Baikalbahn im hölzernen Bahnhofsgebäude öffnet heute nur für uns, mit der bunt gestrichenen Schaukel spielt der Wind und die rote Beiwagenmaschine hat sich schon sehr lange nicht mehr aus eigener Kraft bewegt. Aber wenn im Sommer die Nostalgiezüge auf der ehemaligen Trasse der Transsibirischen Eisenbahn verkehren, dann wird es hier nur so brummen.

Vielleicht nicht ganz so wie in Paris. Auch wenn so mancher in Irkutsk das östliche Äquivalent zur Metropole an der Seine verortet. Die schönste Stadt Sibiriens ist sie aber allemal, und das nicht mangels Konkurrenz. Als eine der wenigen ist sie natürlich gewachsen und nicht auf dem Reißbrett geplant worden. Prachtstraßen und Parks sind adrett getrimmt wie die Promenade an der Angara. Die zum Teil zwiebelbetürmten Kathedralen erstrahlen wieder im Glanz vorstalinistischer Zeit, in der sie zerstört oder zweckentfremdet wurden.

Der wahre Schatz allerdings sind die sibirischen Holzhäuser, die meist aus dem 19. Jahrhundert stammen. Mit ihren bunt gestrichenen Fenstern säumen sie ganze Straßenzüge. „Die Schnitzereien sind magisch und sollen böse Geister fernhalten“, erzählt Natascha. Das scheint nicht gegen die Stadtverwaltung zu wirken, denn bei vielen kommt man wegen des mit Asphalt aufgedoppelten Gehsteigs kaum mehr die Türe hinein. Die Bewohner nehmen es pragmatisch und nehmen den Hintereingang.

Am Bahnhof vom Irkutsk, der so süß aussieht, als hätte ihn ein Zuckerbäcker aus dem Spritzbeutel gedrückt und mit Marzipan verziert, hält die Transsibirische Eisenbahn. Der Schlafwagen schaukelt uns über den Stahlgürtel der längsten Eisenbahnstrecke der Welt in das einstige Reich des Dschingis Khan. Der Samowar am Gang faucht leise, aus dem Nachbarwaggon begleiten einen drei alte Bekannte in den Schlaf – Katjuscha, Kasatschok und Kalinka.

Eine Frau in Uniform steht vor der Tür. „In fünf Minuten ist die Bettwäsche abgezogen“, haucht sie den Siebenschläfern mit der eisigen Kälte des Steppensturms Buran entgegen. Guten Morgen in Russland! Russland? Verschlafen wie verwirrt ziehen wir unsere Koffer durch den Bahnhof von Ulan-Ude, sehen Frauen in ausdrücklich asiatischer Tracht, die uns mit Gesängen willkommen heißen, und goldene Stupas, die uns im Sonnenaufgang aus der Ferne anblinzeln. Die Burjaten, deren Wurzeln in der Mongolei liegen, sind die größte nationale Minderheit Sibiriens und hatten den Buddhismus im Gepäck. Ihre schamanischen Bräuche haben sich bis heute erhalten.

Lautete Boris Jelzins föderalistische Devise nach dem Ende der UdSSR noch „Nehmt euch so viel Selbstständigkeit, wie ihr verkraften könnt“, hat Wladimir Putin die Zügel wieder straffer gespannt. So hat die Republik Burjatien seit einigen Jahren keinen Präsidenten mehr, sondern nur mehr ein Oberhaupt. „Es darf nur einen Präsidenten geben“, schmunzelt Fremdenführerin Vera. Und auch der Status der Autonomie reiche nur mehr so weit, wie sie mit dem Kreml konform geht. Aber egal, ob dort der Zar, der Generalsekretär oder Putin persönlich sitzt, Moskau ist im Weltbild der Sibirjaken weit, weit weg. „Und wissen Sie, er kommt so selten hierher ...“

Dabei ist Ulan-Ude eine wirklich hübsche Stadt. Stalinbarock trifft hier auf Sowjetmief, Europa wie Asien haben sich in der Architektur verewigt. Lenin blickt der Kollaboration gelassen entgegen: vor dem Regierungsgebäude seine mehr als fünf Meter hohe Büste aus Granit. Ursprünglich für die Weltausstellung gemeißelt, wollte das mehr als 40 Tonnen schwere Ungetüm niemand haben. Ulan-Ude bekam unfreiwillig den Zuschlag, hält aber bis heute mit Humor dagegen: Es habe schließlich Tradition bei den Burjaten, die abgeschlagenen Köpfe der Feinde zur Schau zu stellen.

Die Lebenslust von Nadeschda steckt in der Sekunde an. Da muss man gar nicht am selbst gebrannten Schnaps Samogon nippen, den sie und andere Frauen der Semeiskije nach jedem Gang des traditionellen Essens einschenken. Und das Festmahl hat viele, viele Gänge, die jeweils mit einem Trinkspruch eingeläutet werden. Schtschi (Kohlsuppe), Salo (ultrafetter Rückenspeck), Piroggen, Pelmeni (gefüllte Teigtaschen) und Sakuski (kalte Vorspeisen), sonder Zahl serviert, stapeln sich auf dem Tisch in der guten Stube und machen das Essen zu kulinarischem Mikado. „Alle Zutaten produzieren wir selbst“, erzählt Nadeschda. Und schon wird das nächste Gericht aufgetragen.

Wir sind zu Gast bei den Semeiskije im Dorf Tarbagatai. Die Altgläubigen sind eine Glaubensgemeinschaft, die sich im 17. Jahrhundert nach einer Reform der gottesdienstlichen Bücher von der orthodoxen Mutterkirche abwandte. Raskolniki (Abspalter) schimpfte man sie und verbannte jene, die nicht freiwillig auswanderten, – drei Mal dürfen Sie raten – nach Sibirien.
Heute geben sie ihre Bräuche, Erzählungen und Gebete wieder offen und mit Stolz weiter. Stellvertretend dafür strahlen die Trachten der „Girlband“ rund um Nadeschda in leuchtenden Farben. Denn jetzt wird gesungen: Ihre Lieder sind so bitter und süß wie der russische Tee. Das Stimmvolumen des Quartetts lässt die Balken im kleinen, bunten Holzhäuschen erzittern.

Wie ein Erdbeben hat die Bewohner der Baikalregion die Nachricht getroffen, dass die Mongolei am Selenga – einer von 336 Zuflüssen – mehrere Kraftwerke bauen will, die das Ökosystem am See zerstören könnten. Auch gegen eine Trinkwasserabfüllanlage chinesischer Betreiber sind sie zu Felde gezogen. Dass immer mehr Wald für die Luxus-Datschen am an sich streng geschützten Uferstreifen (2125 Kilometer lang übrigens) gefällt wird, wird mit Argwohn beobachtet. Mehr als 40 Naturschutzzonen rund um den See sollen weiteren Raubbau an der rohstoffreichen Region verhindern. Pioniere des aufkeimenden Ökotourismus hirschen mit Luchs und Bär durch die Wälder, um Jahr für Jahr ein neues Stück des Rundwanderwegs „Great Baikal Trail“ abzustecken.
Wie alles in Sibirien eine gigantische Aufgabe. Aber eine lohnende. Damit der Baikal auch die Zeit hat, ein Meer zu werden.

Mehr zum Thema