Er kennt das alles: den Drogenkrieg, an dem so viel Blut haftet, Korruption, Gewalt, Ohnmacht und die Hoffnungslosigkeit einer ganzen Generation.

Jota H ist hier in der Communa 13 zu Hause, in einem der halsbrecherischsten Viertel in der jahrelang gefährlichsten Stadt der Welt: im kolumbianischen Medellín. Der 19-jährige Hip-Hopper, Produzent und Sänger trägt Baseballkappe und ein Shirt mit dem Aufdruck der Initiative „Casa Kolacho“, die den Jungen Hoffnung impft, sie ausbildet und mit Musik oder Street Art nährt. Und während Jota H zärtlich über das bunt besprayte Häusermeer des Armutsviertels blickt, sagt er nachdenklich: „Wir haben es satt, zu leiden.“ Und dieser Satz gilt, er ist das Motto der Tour.

Motto: "plata o  plomo"

Er meint das giftige Erbe des Drogenkriegs in den Neunzigern: Bombenangriffe, Entführungen und Raubüberfälle hatten die Drei-Millionen-Metropole fest im Griff. Auf 100.000 Einwohner kamen 381 Morde. Der Name eines Mannes ist eng mit all dem Unheil verknüpft: Pablo Escobar, auch gefürchtet als „El Patrón“ oder „Don Pablo“. Er errichtete ein unvergleichliches Drogenimperium und ein System skrupelloser Korruption, das ihm zu besten Zeiten mehr als 1,5 Millionen US-Dollar pro Tag bescherte. Die neue Maxime lautete: „plata o plomo“, also Silber oder Blei. Wer sich nicht fügte, wurde ermordet - und dessen Familie gleich mit.

Hip Hopper Jota H führt durch sein Viertel
Hip Hopper Jota H führt durch sein Viertel © JS

Die Netflix-Serie „Narcos“ setzte Escobar ein Denkmal und bediente doch nur die US-Sicht auf einen Drogenkrieg, der zwar deutlich eingedämmter ist, aber dessen Wunden in der Gesellschaft weit klaffen. Der Mann, der das Unheil über das Land brachte, wird heute, 25 Jahre nachdem er durch einen Kugelhagel getötet wurde, maximal vermarktet. Sein Konterfei prangt von Kaffeehäferln oder Kissen. Menschen posieren vor seinem Grab auf dem Vorstadtfriedhof in Itagüí, besuchen den Ort, an dem er erschossen wurde, oder fotografieren bei einer „Pablo“-Tour den Schrank, in dem er angeblich sein Geld hortete.
Die wechselvolle Geschichte Kolumbiens geht einem nirgendwo im Land so nah wie in der Communa 13: Die Guerilla-Bewegung ELN besetzte die Gegend genauso wie die Farc-Rebellen, später riss sich Escobar die Communa unter den Nagel.

Als die Guerilla 2002 dort, als letztes Viertel, noch präsent war, verordnete der damals neue Präsident Álvaro Uribe Vélez die Militäraktion Operación Orión, bei der nicht uniformierte Soldaten vier Tage lang aus gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern auf alles schossen, was sich bewegte. Kinder, Frauen und Alte nicht ausgeschlossen. „Dutzende Zivilisten starben und Hunderte blieben verschwunden“, erzählt Jota H. Dann deutet er auf eine Deponie auf dem gegenüberliegenden Hügel. Dort werden ihre Leichen vermutet. Die Operation scheiterte, das Paramilitär blieb, heute existiert es offiziell nicht mehr. Inoffiziell tobt der Krieg weiter, wenn auch vielleicht nicht mehr genau hier.

Von diesen tiefschwarzen Tagen im Oktober 2002 erzählen viele Graffiti: Sie verurteilen den Drogenkrieg und beschwören den Frieden. Eine der berühmtesten Arbeiten zeigt eine schwarze Hand und symbolisiert, wie sehr die Regierung mit der Zukunft all jener spielte, die hier leben. Dieses Thema ist Jota H nicht angenehm. Lieber redet er von der Transformation seiner Heimatstadt. Dabei klopft er sich mit der rechten Faust aufs Herz und schenkt allen ein Lächeln und bugsiert die Truppe zu einem Spielplatz mit drei Rutschen. „Der Platz wurde im Gedenken an einen Buben gebaut, der damals starb.“ Drei Buben schauen neugierig um die Ecke, springen oder köpfeln einen Salto in die Rutsche und freuen sich über mutige Mitmacher mit glatten Hosenhintern.

Gefährlich innovativ


Eine der gefährlichsten Ecken Medellíns ist heute eine der innovativsten: Seit 2010 führen insgesamt sechs Rolltreppen hinauf in die Communa - ein Vorzeigeprojekt, das die Armenviertel mit der City verbinden soll. Noch ist dieses im unübersichtlichen Moloch aus Stadt und abgeschiedenen Communas auf Hügeln einzigartig.

Den besten Überblick hat man - „Narcos“-Zuseher kennen das - von einem der Stadtseilbahnen aus, die über die Armenviertel schweben. Darauf sind die Bewohner, „Paisas“ genannt, genauso stolz wie auf ihre U-Bahn, in der man als Tourist noch immer Seltenheitswert hat, vor allem nach Sonnenuntergang. Während das Ausgehviertel El Poblado erster, sicherer Anlaufpunkt für Touristen und ein Hotspot für digitale Nomaden ist, sind andere Gegenden wie die Innenstadt oder das alte Zentrum nachts besser zu meiden - oder durchs Taxifenster aus zu betrachten.

Dem nebulösen Geflecht der Stadt nähert man sich am besten auf einer Stadttour zu Fuß. Studentin Monsa erzählt von instabilen Waffenruhen, korrupten Politikern, den Konsequenzen des Drogenhandels - und vom Aufbruchgedanken der Jungen. Sie lotst einen in Gegenden, in die vor 20 Jahren niemand freiwillig einen Fuß gesetzt hätte. Heute stehen an vielen dieser früheren No-go-Zonen Bibliotheken, Schulen oder Kunstinstallationen mit Bänken, auf denen Menschen aus Strohhalmen frisch gepresste Säfte schlürfen.

Plaza Botero: Pflichttermin in Medellin
Plaza Botero: Pflichttermin in Medellin © JS


Maler und Bildhauer Fernando Botero hat der Stadt 23 seiner überproportionalen Menschenskulpturen geschenkt - die von fotografierfreudigen Touristen tagsüber umzingelt sind. Wie lebendig der einst verlassene Platz ist, das beobachtet man am besten vom Museum Antioquia. Dort oben ist man wie an vielen anderen Punkten Kolumbiens dem Himmel nahe. Verzwickt nahe.