Der Hafenmeister schüttelt den Kopf. T-Shirt, Pulli und Frühlingsjacke sind eindeutig zu wenig. Der Hafenmeister ist auch Hotelbesitzer und sorgt sich um seine Gäste. Geschwind holt er seine dicke Angeljacke. Sie ist nötig. Im April kann es im Donaudelta noch empfindlich kühl werden. Vor allem, wenn man in einem kleinen Motorboot durch die Schilfkanäle fährt.
Auf 4178 Quadratkilometern teilt sich die Donau in drei Hauptarme, verbunden durch unzählige Kanäle, voller Seen und bewaldeter Inseln. 82,5 Prozent des Deltas liegen in Rumänien, der Rest gehört zur Ukraine. Fünf Kilometer südlich der EU-Außengrenze liegt der Ort Sulina. Hier endet der gleichnamige mittlere Arm der Donau. Ende des 19. Jahrhunderts war Sulina eine wichtige Handelsmetropole, in ihrem Zollfreihafen hatten zahlreiche Nationen Handelsniederlassungen. Zu erkennen ist das an dem kleinen Friedhof, wo Engländer neben Deutschen, Rumänen und Türken begraben liegen.
Vogelparadies
Knapp vor dem Ort biegt ein Seitenarm nach Norden. Der Steuermann dreht den Motor auf, das Boot gewinnt an Fahrt. Aufgeschreckt von dem Krach erheben sich alle paar Meter Vögel in die Luft. Egal, ob Kraniche, Ibis, Störche oder Pelikane – im Frühling sind sie alle mit dem Nestbau beschäftigt.
So nah am Wasser ist die Luft kalt. Die dicke Anglerjacke macht sich bezahlt. Der Kanal führt zum 5246 Hektar großen Letea-Wald, gut die Hälfte davon ist ein EU-Naturschutzgebiet. Nur die Bewohner des gleichnamigen Dorfes dürfen den Wald betreten, um Bruchholz zu sammeln – und natürlich Wissenschaftler.
Doch ist nicht jeder Tourist, der in diese Wildnis kommt, auch irgendwie ein Wissenschaftler?
Freie Pferde und schwimmende Kühe
Die Einfahrt ins Naturschutzgebiet liegt direkt an der Dorfgrenze. Nach einer halben Stunde auf der Pferdekutsche weicht der Wald einer Steppe und am Boden sieht man eindeutige, dampfende Spuren von Pferden. Nach der Revolution 1989 brachen die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zusammen. Niemand kümmerte sich um die Tiere, rund 10.000 leben heute wild im Delta, 2000 davon im Letea-Wald.
Pferde sind nicht die einzigen Nutztiere, die frei durch die Schilflandschaft streifen: Am Rand der Kanäle stehen Kühe bis zum Bauch im Wasser – eine besondere Rasse. Sie sind die einzigen Rinder, die das Schilfgras fressen. Sie streifen relativ frei durch das Delta, nur von Zeit zu Zeit sehen die Besitzer nach ihren Tieren.
Das Motorboot fährt wieder in Sulina ein. Vor dem Hotel wartet der Hafenmeister schon. Seine Anglerjacke hat gute Dienste geleistet. Doch nun braucht er sie wieder, für die nächste Bootstour durch das endlose Schilf.