Es sind beinahe 60 Jahre vergangen, seit italienische Archäologen bei Grabungen im römischen Theater von Caesarea Maritima eine 82 Zentimeter hohe Steinplattefanden, die den Schriftzug „…tius Pilatus“ trägt. Da sie stark beschädigt ist, lässt sich der gesamte Text nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Sicher ist aber: Es ist dies der einzige epigrafische Nachweis für jenen Mann, der in den Jahren zwischen 26 und 36 als Statthalter des Kaisers Tiberius im Rang eines Präfekten in der Unruheprovinz diente.

Auch wenn diese Tafel zu den berühmtesten in Israel gefundenen Inschriften zählt, so erlangte Pilatus doch durch eine ganz andere Erwähnung Unsterblichkeit: durch jene im Glaubensbekenntnis, das im vierten Jahrhundert verfasst wurde. „Gestorben unter Pontius Pilatus“ heißt es dort. Wobei die Formulierung „durch Pilatus“ historisch wohl richtiger wäre.

Aber noch sind wir nicht beim Urteil, das der Römer fällte, sondern erst bei den Gründen für den Prozess. Und diese sind schwer zu rekonstruieren. Denn die Berichte der vier Evangelisten widersprechen sich deutlich. Das erklärt sich aus der Tatsache, dass es nicht ihre Absicht war, eine Biografie Jesu zu verfassen. Ihnen war vielmehr daran gelegen, Glaubensaussagen zu vermitteln. Sie verfassten ihre Texte für frühchristliche Gemeinden, weswegen Matthäus, der für Judenchristen schrieb, in seinem Evangelium ganz andere Schwerpunkte setzte als etwa Lukas, der Heidenchristen adressierte.

Warum musste Jesus von Nazareth sterben?

Fest steht, dass jene, denen Jesus ein Dorn im Auge war, schon vor Prozessbeginn ein Urteil gefällt hatten: „Es ist besser, wenn ein einziger Mensch stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht ... Von diesem Tag an waren sie entschlossen ihn zu töten. (Joh 11, 47 ff).“

Die Gründe für die Beseitigung Jesu waren religiöser Natur: So warfen ihm die Pharisäer vor, am Schabbat Ähren gepflückt oder einen Mann geheilt zu haben, der bereits seit 38 Jahren krank war. Besonders provozierte Jesus auch mit seiner Sicht auf die Tora – „der Schabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Schabbat“ – und mit seiner Sprache: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in Finsternis wandeln.“ So sehr diese Worte, in denen ein klarer Messias-Anspruch erkennbar ist, die frommen und hoch gelehrten Juden am Tempel auch provoziert haben mögen, für ein Urteil durch den Römer Pontius Pilatus reichten sie nicht aus. Und nur er hatte das „ius gladii“, das „Schwertrecht“, inne, im Rahmen eines Kapitalverbrechens außerhalb von Rom die Todesstrafe zu verhängen.

In innerreligiöse Angelegenheiten der untergebenen Völker mischte sich Rom aus guten Gründen nicht ein. Also mussten jene Bürger Jerusalems, die Jesus am Kreuz sterben sehen wollten, politische Gründe vorbringen, die Pilatus zu einem Todesurteil bewegen konnten. Religiöse Vergehen wurden nur dann mit dem Tod bestraft, wenn es sich um eine Entehrung des Kaisers oder um Hochverrat handelte. Bei Lukas (23, 2ff) geht die Anklagepartei auch in diese Richtung, wenn sie Pontius Pilatus gegenüber argumentiert: „Wir haben festgestellt, dass dieser Mensch unser Volk verführt, es davon abhält, dem Kaiser Steuern zu zahlen, und behauptet, er sei der Christus und König.“ Das reichte Pilatus aber für ein Urteil noch nicht aus, denn offenbar hatte ihm bis zu diesem Zeitpunkt keiner seiner Beamten mitgeteilt, dass tatsächlich weniger Steuern im Land eingetrieben worden wären.

Ist Pilatus ein unentschlossener Funktionär, oder wollte er seine jüdischen Untertanen nur ärgern, indem er den Prozess in die Länge zog? Wir wissen es nicht, möglicherweise liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Hans Kelsen, 1881 in Prag geborener Jude und maßgeblicher Architekt der österreichischen Verfassung, widmete sich in einer Publikation dem Prozess Jesu. Darin beschreibt er Pilatus als jemanden, der nicht „die Zivilcourage hatte, die gefordert war“ und „nicht die Amtscourage, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln“. Pilatus war ein Funktionär, der, wie die meisten Funktionäre, einfach seine Ruhe haben wollte. Dieses Bedürfnis ist aber nicht seiner persönlichen Trägheit zuzuschreiben, es ist Teil seiner Mission: „Es gehört zu einem guten Provinzstatthalter, dafür zu sorgen, dass die Provinz, die er verwaltet, friedlich und ruhig ist. Das wird nicht schwer zu erreichen sein, wenn er sich nachdrücklich darum bemüht, die Provinz von Übeltätern frei zu halten und diese zu verfolgen.“ So beschreibt Ulpian, ein römischer Jurist um das Jahr 200, die Aufgaben eines Statthalters.

Ein Übeltäter war Jesus für Pilatus zunächst nicht. Tertullian, ein Kirchenvater im zweiten Jahrhundert, war sogar der Überzeugung, dass Pilatus die Gottähnlichkeit des Angeklagten erkannt habe. Deswegen erhebt Tertullian Pilatus auch zu einem Heiligen. Vielleicht trug auch die Frau des Pilatus dazu bei: „Während Pilatus auf dem Richterstuhl saß, sandte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten! Ich habe heute seinetwegen im Traum viel gelitten.“ (Mt 27,19).

Der "Freund des Kaisers"

Tatsächlich scheint es so, als ob Pilatus versucht habe, Jesus seinen Anklägern zu entreißen. Er ließ ihn geißeln und wollte offenbar mit dem zerschundenen Mann „ecce homo“ – „seht, welch ein (armseliger) Mensch“ – an das Mitleid der Juden appellieren. Er unterbreitete ihnen sogar das Angebot, einen Gefangenen freizulassen: den Räuber Barabbas oder Jesus. Die aufgewiegelte Masse im Palast der Herodes wollte – ganz gegen die Intention des Pilatus – aber den Räuber frei sehen. Das Problem mit diesem Volksentscheid war allerdings, dass es für einen solchen in der gesamten römischen Rechtspraxis keinen einzigen Beleg gibt. Wenn diese „Volksbefragung“ allerdings nur literarisch ist, dann wurde sie mit der klaren Absicht von allen vier Evangelisten eingefügt: den Juden die Schuld und die Verantwortung am Tod Jesu zuzuweisen.

Freilassung oder Kreuzigung? Pilatus stand enorm unter Druck. Seine Entscheidung für das Todesurteil dürfte in der Drohung „Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers“ gründen. Den Titel „amicus Caesaris“ („Freund des Kaisers“) hatte Pilatus von Kaiser Tiberius verliehen bekommen. Diese Auszeichnung zu verlieren, wäre mit dem beruflichen Niedergang des Pilatus einhergegangen. Aus Opportunismus und aus Angst um seine persönliche Stellung „lieferte er ihnen Jesus aus, damit er gekreuzigt würde“.