Herr Professor Tück, es gibt derzeit keine öffentlichen Gottesdienste. Haben Sie schon einmal einen gestreamten Gottesdienst erlebt?
JAN-HEINER TÜCK: Es ist in der Tat ein epochaler Einschnitt, dass Bischöfe die Gottesdienstversammlungen untersagen. Livestreams können helfen, in Zeiten der Kontakteinschränkung den Kontakt zum Heiligen zu wahren. Ich selbst gehöre allerdings nicht zur Generation der Digital Natives und habe von diesem Angebot noch keinen Gebrauch gemacht.

Was tun Sie stattdessen?
Ich habe das Glück, eine größere Familie zu haben, und wir bewältigen die Krise so, dass wir uns zusammensetzen, eine Kerze entzünden und mit den Kindern Psalmen beten, in der Bibel lesen und Lieder singen.

Haben Sie theologische Einwände gegen solche Messen?
Normalerweise leben Eucharistiefeiern davon, dass die Teilnehmenden auch real da sind. Sakramente haben immer eine sinnlich-körperliche Dimension, darin sehe ich eine der Stärken des Katholizismus. Die ist natürlich jetzt tangiert durch die Notstandsmaßnahmen. So gut und hilfreich Livestream-Gottesdienstangebote sind, man darf sich die Differenz nicht verschleiern: Es ist ein Unterschied, ob man virtuell oder real am Gottesdienst teilnimmt. Aber gerade für Alleinstehende oder ältere Leute ist es gut, dass sie über Fernseh- oder Livestream-Übertragungen mitfeiern können.

Ein Kollege von Ihnen sprach von „Geistermessen mit klerikalen Alleinunterhaltern“.
Ich halte solche Polemik für wenig hilfreich. Das Wort ist ja offensichtlich aus dem Fußball entliehen, wo Spiele in leeren Stadien als „Geisterspiele“ bezeichnet werden. Wir sind in Zeiten der Not und es ist klar, dass es nach Auskunft der Experten gefährlich wäre, reale Gottesdienstversammlungen abzuhalten. Liturgietheologisch und kirchenrechtlich ist es möglich, dass ein Priester auch ohne Gläubige Gottesdienste feiert. Das ist sicher suboptimal, aber in jeder Messfeier ist Christus und die ganze Kirche präsent. Daher halte ich es für deplatziert, von Alleinunterhaltung oder klerikalem Narzissmus zu sprechen. Man kann darin ja auch einen Dienst der Stellvertretung sehen.

Es gab auch massive Kritik daran, dass die Kirche dem Staat bei den Kirchenschließungen nachgegeben hat, auch der Vergleich mit der Nazizeit wurde gezogen, damals habe man das nicht getan.
Der Vergleich mit der Nazizeit ist schief. Im Dritten Reich ging es um eine politische Ideologie, die die katholische Kirche zutiefst herausforderte, und die Bereitschaft zum Widerstand war viel zu schwach. Heute ist durch die Pandemie die Gesundheit aller gefährdet. Die Kirche ist meines Erachtens gut beraten, wenn sie die humanwissenschaftliche Kompetenz der Experten achtet und nicht in einem falsch verstandenen Widerstand gegen die staatlichen Organe Sonderwege geht. Inzwischen gibt es allerdings auch unter Virologen, Epidemiologen und Juristen unterschiedliche Statements, sodass sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen neu stellt. Bäckereien sind nach wie vor geöffnet, das Parlament arbeitet weiter, warum sollte die eucharistische Liturgie unter Beachtung von entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen nicht auch möglich sein?

Verhältnismäßigkeit war das Argument eines Klägers, der in Hessen das Verbot öffentlicher Gottesdienste angefochten hat.
Sobald sich die Einschätzung der Experten ändert, sollten die Bischöfe über eine Lockerung der strikten Regeln nachdenken. Aber das muss klug abgewogen werden. Ich halte nichts von vormodernen Vorstellungen, dass gerade in Zeiten einer Epidemie die Taktung der Gottesdienste erhöht werden soll, weil man jetzt erst recht Gott bitten soll, dass er die Krise überwinden hilft.

Eine magische Vorstellung?
Das ist eine magische, ich würde sagen funktionalistische Vorstellung. Man kann mit Gott nicht rechnen, so sehr man sein Wirken auch nicht grundsätzlich ausschließen sollte. Aber eine „do ut des“-Frömmigkeit – ich bete, damit Gott mir hilft – ist theologisch fragwürdig.

War der zusätzliche „urbi et orbi“-Segen des Papstes vom Petersplatz aus nicht auch so etwas?
Der Papst ist sicher kein Anhänger einer funktionalistischen Frömmigkeit. Aber natürlich bietet er die Hilfsmittel des Gebets und der Liturgie auf, um in Zeiten der Krise Orientierung und Halt zu geben. Aber er hat klar gesagt, jetzt ist nicht die Stunde des Urteils Gottes, sondern jetzt ist die Stunde der praktischen Solidarität, der kritischen Selbstbesinnung.

Auch von einer Strafe Gottes hört man wieder reden.
Die These einer Kollektivstrafe, also einer Rache Gottes für die gottvergessene Generation, die halte ich für absolut verfehlt. Sie ist erstens zynisch gegenüber den Kranken. Sie ist zweitens anmaßend, da sie Gottes Urteil über die Menschen eigenmächtig vorwegnimmt. Und drittens lähmt sie die praktische Solidarität: Wenn man glaubt, die Pandemie sei eine Geißel Gottes, dann glaubt man, sie wird zu Recht verhängt und dass wir uns auch nicht einzusetzen brauchen, sondern abwarten müssen, bis sie vorbei ist.

Könnte die Pause auch etwas Nützliches nach sich ziehen?
Das Herunterfahren des gottesdienstlichen Lebens auf einen Stand-by-Modus könnten wir als heilsame Unterbrechung nutzen, als Anlass einer kritischen Selbstbesinnung.

Selbstbesinnung worauf?
Ob wir nicht selbst zu sehr versucht haben, Herr der Welt, Herr der Dinge zu sein. Ob wir nicht auch in strukturelles Unrecht verstrickt sind, gegen das wir angehen sollten. Ob wir nicht allzu oft passiv bleiben, wenn Lebensmöglichkeiten von Menschen abgeschnitten werden. Ob wir nicht allzu oft schweigen, wenn es gilt, den Stimmlosen eine Stimme zu geben. Die Lektion der Krise ist: Wir sind nicht souverän. Was bedeutet das eigentlich? Die Kirche hat übrigens wunderbare spirituelle Angebote, die mit Verletzlichkeit, mit Krankheit, mit Sterblichkeit umgehen lehren.

Welche?
Ich denke an die Partitur der Psalmen, die das alles ins Wort bringen. Gebet hat meines Erachtens nur Sinn, wenn es nicht in routinierten Floskeln erstarrt, sondern die ganze Wirklichkeit, auch mit ihren abgründigen Seiten, vor Gott bringt. Die Psalmen tun das. Gesundbleiben ist ein hohes, aber wohl nicht das allerletzte Gut. Die Kirche hält das Bewusstsein dafür wach, dass es etwas darüber hinaus gibt. Wenn die Eucharistie ausfällt, die ja auch auf das himmlische Hochzeitsmahl vorverweist, fehlt etwas. Gerade diese Mangelerfahrung macht bewusst, dass unsere Sehnsucht hier nie voll befriedigt wird. Peter Handke hat einmal vom „Hinübermahlzeiten zu Dir“ als Grunderfahrung der Eucharistie gesprochen, ein sehr starkes Wort.

Was kann man konkret in den Kartagen machen? Was tun Sie und Ihre Familie?
Die Bräuche der Volksfrömmigkeit können uns helfen: zum Beispiel am Palmsonntag das Kreuz, wenn man eines hat, mit einem Palmzweig zu schmücken, oder am Gründonnerstag ein Agapemahl daheim zu feiern, ohne jetzt die Eucharistie zu simulieren, am Karfreitag die Johannespassion zu lesen, eine Kreuzwegandacht zu halten, im Familienkreis zu versuchen zu beten. In der Osternacht sollte man eine Kerze entzünden, vielleicht sogar die Taufkerze, wenn man sie noch hat. Auch das Osterfrühstück sollte nicht zu kurz kommen. Das Brauchtum schlägt eine Brücke zur Liturgie, es hält mitpräsent, was wir eigentlich feiern, auch wenn die Vollform der österlichen Eucharistiefeier jetzt gerade nicht möglich ist.

Die fernen Verwandten kann man via Skype dazuschalten.
Wenn man technisch dazu in der Lage ist ...