Was ist ein Menschenleben wert? 30 Silberstücke? Und was wäre unser Preis für einen Verrat? Rund 10.000 Euro betrug der Judaslohn nach heutigem Geld, ausbezahlt an einem Vorabend des jüdischen Pessachfestes vor bald 2000 Jahren. Judas Ischariot hätte sich damit einen Acker kaufen können, wie es die Hohepriester auch tatsächlich taten (siehe Mt 27,3–8), nachdem der Unglückliche seine Kopfgeldprämie zurückgebracht und sich erhängt hatte.

Im „Letzten Abendmahl“ von Leonardo da Vinci ist von Reue noch nichts zu spüren, denn Judas hält seinen Geldbeutel fast provokant vor aller Augen. Anders als in älteren Darstellungen sitzt er nicht isoliert, sondern inmitten der übrigen Jünger – als wollte der Künstler sagen, dass ein jeder das Zeug zum Denunzianten hat. Und mit solchen kannte sich Leonardo aus. Als junger Mann war er in Florenz der Homosexualität bezichtigt worden, ein Vorwurf, der zwar ohne gerichtliche Folgen blieb, aber tiefes Misstrauen hinterließ. Jahre später übersiedelte Leonardo nach Mailand und schuf im Speisesaal des Klosters Santa Maria delle Grazie sein einziges erhaltenes Wandgemälde, ein Werk voller Eleganz, Erfindungsreichtum und dunkler Geheimnisse.

Leonardo lokalisierte das biblische Geschehen in einem Saal mit Wandteppichen, der nach hinten geöffnet ist. An einem lang gezogenen Tisch sitzen die Apostel aufgefädelt wie bei einer Pressekonferenz. Doch der Satz, der über der Runde schwebt, ist nicht für die Öffentlichkeit gedacht, sondern ein sehr persönlicher: „Einer unter euch wird mich verraten.“

Die ganze Bandbreite

Während Jesus die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben ist, herrscht unter den Jüngern Bestürzung. Der Künstler zeigt sie in der gesamten Bandbreite menschlicher Charaktere, so wie sie der griechische Arzt Hippokrates beschrieben hatte. Links sitzen mit Bartholomäus, Jakobus d. J. und Andreas die Phlegmatiker, daneben die Melancholiker Judas, Petrus und Johannes sowie die Choleriker Thomas, Jakobus der Ältere und Philippus. Ganz rechts diskutieren die lebhaften Sanguiniker Matthäus und Thaddäus mit dem greisen Simon.

Unter den Aposteln fasziniert seit jeher das mädchenhafte Aussehen des Johannes. Hatte Leonardo, dieses unergründliche Genie, gar Maria Magdalena an die Seite Jesu gemalt? In Dan Browns „Sakrileg“ („The Da Vinci Code“) ist sie die Mutter von Jesu Nachkommen und somit der wahre „Heilige Gral“. Für den Autor zahlte sich die Verschwörungstheorie aus: Mit 60 Millionen verkauften Exemplaren rangiert der Thriller derzeit auf Platz 17 der erfolgreichsten Bücher aller Zeiten.

Spekulationen über die Speisen

Viel spekuliert wurde auch über die Speisen, die Leonardo neben Brot und Wein, den Grundpfeilern der Eucharistie, auftischte. Ob es Lamm, Huhn oder „Aal in Orangensoße“ war, wie jüngst ein Forscher vorschlug, wird wohl ungeklärt bleiben. Denn schon bald nach seiner Vollendung begann das Gemälde zu verfallen und musste mutwillige Eingriffe über sich ergehen lassen – bis hin zu einem Türeinbau, dem Jesu Füße zum Opfer fielen.

15 Minuten Besichtigung

Wer sich von Leonardos Meisterwerk selbst ein Bild machen möchte, hat in Mailand gerade einmal 15 Minuten Zeit dafür, nach Voranmeldung versteht sich. Wer auf die Aura des Originals verzichten kann, besuche die Wiener Minoritenkirche, wo eine von Napoleon in Auftrag gegebene Mosaikkopie das berühmteste aller Abendessen in allen Detail vor Augen führt. Aal in Orangensoße ist darauf aber nicht zu erkennen.

Möglicherweise war es dem Eigenbrötler aus Vinci ohnehin egal, welche Art Fleisch seine Apostel aßen, denn als Vegetarier prophezeite er: „Es wird die Zeit kommen, da das Verbrechen am Tier genauso geahndet wird wie das Verbrechen am Menschen.“ Dabei hatte er weder eine Vorstellung von Tierfabriken noch von Atombomben oder dem Holocaust. Das Verbrechen am „König der Juden“, der hier so einsam unter Freunden sitzt, war leider erst ein Anfang.