Wie beurteilen Sie Spiele, wie Ingress?

Rainer Winter: Es gibt natürlich bei allen Computerspielen die Gefahr, dass Menschen von der Spielwelt vereinnahmt werden. Dennoch sind solche Games nicht per se gefährlich. Bei einem Spiel wie Ingress geht es eher darum, dass man die Stadt anders wahrnimmt als bisher.

Wie ist das zu verstehen?

Winter: In einer Stadt gehen die meisten Menschen einfach ihre üblichen Wege - Einkaufen, ins Café, in die Arbeit. Der Soziologe Max Weber sprach in diesem Zusammenhang von der Entzauberung der Welt durch die steigende Technisierung und Funktionalität. Das Spiel transformiert nun die Stadt in etwas Neues. Die Umgebung wird plötzlich faszinierend und geheimnisvoll. Man kann sagen, die Welt wird wieder etwas verzaubert. Ein weiter Faktor ist die Gemeinschaft. Spieler erleben etwas zusammen, man sucht gemeinsam nach einer Lösung eines Problems und kann auch seine Emotionen ausleben.

Wird sich die Gesellschaft durch solche Spiele ändern?

Winter: Ganz neu ist die Idee nicht. Bereits in den 1960er Jahren gab es die Bewegung des Situationismus. Es ging darum, die Stadt anders zu erleben. Man wollte ein anders Bild auf die Stadt werfen. Im aktuellen Kontext gilt das umso mehr, da ja bereits jetzt eine Stadt mit Information überlagert ist, GPS, Stromanschlüsse, Abfahrzeit der Öffis etc. Diese werden allerdings kaum wahrgenommen. Ein Spiel wie Ingress macht diese Überlagerung erlebbar. Man kann die Stadt mehr als Abenteuer erleben. Auf der einen Seite ist die funktionalistische Stadt und auf der anderen die Menschen, die sich ihre eigenen Wege suchen, etwas Eigenes erleben wollen - abseits von Funktion. Es ähnelt durchaus Aktivitäten wie den Flashmobs oder Geocaching. Es geht um diese Idee, aus der Stadt mehr zu machen, als nur Wohnraum.

Bei Computerspielen wird oft kritisiert, dass sie zu einer Vereinsamung führen. Doch die Ingress-Spieler sprechen von einer sehr lebendigen Gemeinschaft. Wie passt das zusammen?

Winter: Das Community-Building ist ein sehr wichtiger Aspekt von Computer-Rollenspielen (Anm. In diese Kategorie fällt das Spiel Ingress). Die alten sozialen Strukturen gibt es nicht mehr, Großfamilien sind zur absoluten Ausnahme geworden, die Menschheit entwickelt sich immer mehr in Richtung Individualisierung und Fragmentierung. Damit bilden solche Spiele eigentlich einen Gegenpol zur aktuellen Entwicklung der Gesellschaft. In einer Gemeinschaft bekommt man Feedback und kann Gefühle erleben. Einer der wichtigsten Punkte ist: Man kann diese Community auch wieder verlassen, wenn man sie nicht mehr braucht.