Um gutes Brot ist in den letzten Jahren ein Hype entstanden. Die schlichte Formel Mehl-Wasser-Salz schaffte es vom Grundnahrungsmittel zum Lifestyleprodukt. Warum ist gerade dieses Lebensmittel so begehrt?

BARBARA VAN MELLE: Im Zuge der industrialisierten Entwicklung hat eine Entfremdung vom Lebensmittel stattgefunden. Hier teilt sich die Gesellschaft. Nicht alle legen Wert darauf, wie sie sich ernähren. Doch ein Teil der Menschen verspürt eine Sehnsucht, zu wissen, wie die Dinge hergestellt werden, hinter die Kulissen der Lebensmittelproduktion zu blicken. Man wendet sich wieder der Basis zu. Wenn man den Computer ausschaltet, ist keine Arbeit sichtbar. Wenn die Leute am Ende eines Back-Workshops einen duftenden Laib Brot in Händen halten, sieht man ihnen die Freude an – vor Corona wurden wir auch umarmt.

Wie erklärt man dem Konsumenten, warum handwerklich hergestelltes Brot mehr kostet als Fertigteigmischungen?

BARBARA VAN MELLE: Für gutes Brot bezahlt man gern einen fairen Preis. Als die Supermärkte mit den Backmischungen begonnen haben, hat eine unglaubliche Verflachung der Vielfalt stattgefunden. Es gab keinen Grund mehr, zum Bäcker zu gehen. Dabei geht man ja auch zum Fleischer, um seine Lieblingsbratwurst zu kaufen. Genauso sucht man sich seine Lieblingsbrote oder eben Topfengolatsche von einem Bäcker aus. Wenn ein Burger von Mexiko bis Gramatneusiedl gleich schmeckt, wird jede Individualität ausgelöscht.

Heute sieht man vor manchen Bäckereien Schlangen von Kunden stehen. Sind kreative Bäcker im Vorteil?

BARBARA VAN MELLE: Bäcker haben die größten Chancen, wenn sie authentisch, ehrlich sind und sich auf Qualität besinnen. Ich persönlich brauche oft nicht einmal ein Gewürz im Brot. Ausgefallene Getreidesorten, die Arbeit an der Basis ist wesentlich. Welches Mehl, welche Butter oder Milch? Das verändert Texturen, Enzymatik und am Ende ist das eine Kipferl mürber als das andere – das ist der Schlüssel zum Erfolg. Man braucht auch keine Auswahl von 160 Sorten, aber kreative Wege beim Arbeitszeitmodell. Nachtarbeit und somit die Umkehr des Lebens sind nicht mehr notwendig.

Worauf kommt es also beim Brotbacken an?

BARBARA VAN MELLE: Jedes Brot ist nur so gut wie seine Grundzutaten. Beim Wein würde auch niemand erwarten, dass sich jemand grüne Tafeltrauben im Supermarkt kauft und einen Veltliner daraus macht. Mehl unterscheidet sich durch Sortenvielfalt wie der Wein, im Terroir, im Jahrgang. Das steht nirgends drauf. Oberkulmer Rotkorn, Lungauer Tauernroggen, Lichtkornroggen, Goldblumenweizen – Bäckermehle schmecken komplett anders.

Noch nie ist zu Hause so viel gebacken worden wie in den letzten Wochen. Müssen Backstuben jetzt die Hobbybäcker fürchten?

BARBARA VAN MELLE: Die Brotbackszene ist keine Konkurrenz. Wenn ich als Konsument weiß, wie gutes Brot schmeckt, gehe ich trotzdem zum Bäcker und kann schätzen, was er macht. Aber man muss es einmal gekostet haben, muss wissen, wie es schmecken kann. Wenn ich es in der Kindheit nie gekostet habe, wie soll ich mich nach sonnengereiften Paradeisern, nach gutem Brot sehnen?

Kann man Geschmack entwickeln oder ist der Zug abgefahren, wenn man als Kind großteils von Fast Food und industriell gefertigten Produkten gelebt hat?

BARBARA VAN MELLE: Es ist wie bei einer Zweitsprache, wenn man sie im Kindesalter lernen kann, ist das ein wunderbares Geschenk. Wenn ich mich später darauf einlasse, mein Geschmacksspektrum zu erweitern, ist es mühseliger. Geschmack muss ich mir erarbeiten, zum Ziel setzen, neugierig bleiben. Man muss sich mit seinem Lebensmittel beschäftigen – kauft man sich ein Handy, recherchiert man ja auch stundenlang. Wir leben von dem, was wir essen, verstoffwechseln es, es hat Einfluss auf das, was wir tun.

Sind Männer oder Frauen neugieriger, wenn es ums Brotbacken geht?

BARBARA VAN MELLE: Es kommen so viele Männer zu uns, da hat sich etwas gewandelt. Früher war das Brotbacken in den bäuerlichen Haushalten angesiedelt, meist waren es die Frauen, die gebacken haben. Als mich meine 18-jährige Tochter in unserer Mehl-Greißlerei besucht hat, hat sie festgestellt, dass auch viele junge Hipster hier einkaufen.

Warum war die Germ als eine der wenigen Zutaten während des Lockdowns fast ständig ausverkauft?

BARBARA VAN MELLE: Am Beispiel Hefe ist klar geworden, dass die Globalisierung Nachteile hat – es gibt keine Hefeproduktion mehr in Österreich. Obwohl in der Hochblüte des Bäckerhandwerks in Wien die Presshefe erfunden wurde. Wir konnten in den Wochen des Lockdowns keine Workshops machen, also haben wir Videos auf Facebook gestartet – das Interesse war enorm. In einer Zeit der Unsicherheit, der Hamsterkäufe hat man erkannt, dass das Brotbacken eine Fähigkeit ist, die autark macht.

Welches Brot werden wir 2050 essen?

BARBARA VAN MELLE: Die Teilung der Welt wird weitergehen, die Technisierung des Backens voranschreiten. Industriekonzerne beherrschen die Backwelt, plastikverpackte Toastbrote – all das wird nicht verschwinden. Doch dazu gibt es diesen Gegentrend, an dem ich mit ganzem Herzen beteiligt bin. Ich hoffe, dass wir es schaffen, weitere Kreise zu ziehen.

Rezepte für Wiener Feingebäck und wie es international Geschichte schrieb: Vom Kipferl zum Croissant (Pichler-Verlag)
Rezepte für Wiener Feingebäck und wie es international Geschichte schrieb: Vom Kipferl zum Croissant (Pichler-Verlag) © Pichler Verlag

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