Das waren noch Zeiten: „Wir sind der schönen Gegend wegen so langsam gereist, dass wir erst zwei Tage hier sind“, notierte Alexander von Humboldt 1797 auf seiner Reise von Linz ins Salzkammergut. Der deutsche Naturforscher drückte damit lange vor der Erfindung des Tourismus einen noch heute gültigen Grundsatz aus: Nur wer gemächlich reist, reist wirklich.

Aber werden wir dieser Regel folgen, wenn wir dieser Tage unsere Koffer packen und auf der Autobahn oder via Charterflug nach Süden brausen? Wenn wir Flugmeilen sammeln wie seinerzeit bunte Stempel im Reisepass? Oder ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass wir uns auf der Jagd nach Instagram-Hotspots und facebooktauglichen Kulissen im Dickicht der Selbstoptimierung und Selbstdarstellung verstricken?

Das Talent zum Loslassen

Das mit dem Urlaub ist nämlich gar nicht so leicht, und das mit der Erholung auch nicht. Nur wenige Menschen haben ein Talent zum Loslassen und zur Selbstorganisation. Je mehr wir jahrein, jahraus in ein fremdbestimmtes Zeit- und Pflichtenkorsett gezwängt sind, desto mehr überfordert uns die Urlaubsplanung. Denn plötzlich sollen wir selbst dafür sorgen, unsere freie Zeit so zu verbringen, dass wir am Ende des Tages zufrieden sind.

Kamera statt Stechuhr

Nicht nur deshalb ist die Gefahr groß, dass uns das Hamsterrad des Alltags bis in den Urlaub verfolgt. Und dass wir in der Freizeit erst recht messbare Resultate anhand von genormten Leistungsmaßstäben anstreben. Zumindest scheint es wichtig zu sein, auch über die absolvierte Freizeit Rechenschaft abzulegen. Was im Büro die Stechuhr ist, das besorgen jetzt Kamera, Schrittzähler und GPS-Gerät: Das Erlebte wird registriert, dokumentiert, analysiert. Die Selbstvermessung dient der Selbstvergewisserung. Das kann die „schönste Zeit des Jahres“ ganz schön schweißtreibend machen.

Schon die Anreise mündet ja meistens in den ergebnisorienierten Satz: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Und Zielerreichung bleibt auch in den Wochen danach ein wichtiger Maßstab fürs Wohlbefinden. Wo sind wir gewesen, wie viel haben wir bewältigt, was haben wir mithilfe von Selfie und Posting beweisbar abgehakt?

Schnitzeljagd und Speiseeisberg

Der Urlaub wird in Zeiten des Internets leicht zur To-do-Liste, die nach Art einer Schnitzeljagd abzuarbeiten ist. Wobei „Schnitzeljagd“ zu den im Urlaubshotel gültigen Essenszeiten durchaus wörtlich zu nehmen ist. Schon zuhause vor dem Bildschirm fahndet man nach Sehenswürdigkeiten und stellt Routen zusammen, um in kurzer Zeit ein Maximum an Sensationen einzusammeln. Die berüchtigten asiatischen Reisegruppen, die „Europa in 14 Tagen“ abgrasen, sind da nur die Spitze des Speiseeisbergs. Denn auch für uns gilt die digitale Urlaubsmaxime: Ich poste, daher bin ich. Wer nichts erzählt, der hat nichts erlebt, und was nicht auf Facebook geliked wird, hat sich womöglich nie zugetragen.

Das Prinzip dahinter ist freilich nicht neu. Der Urlaub und das Reisen waren immer schon zum beträchtlichen Teil eine Inszenierung für daheimgebliebene Dritte. Die ersten Naturforscher und Entdeckungsfahrer mögen noch aus reiner Neugier losgezogen sein, doch zeitgleich mit der Erfindung des Fremdenverkehrs im 19. Jahrhundert entstanden auch die touristischen Moden. Die Eisenbahn, die Thermalquellen, die Sommerfrische, das Meer: Immer gab es angesagte Destinationen, wo man einfach gewesen sein musste. Ob es einem gefiel oder nicht.

Das Selfie hieß Ansichtskarte

Man konnte nämlich - horribile dictu – tatsächlich schon vor der Erfindung des Handys reisen. Nur hieß das Selfie früher eben Ansichtskarte, das Navi nannte man Atlas, gepostet wurde im Tagebuch. Und die Fotos mussten nach der Rückkehr in der Dunkelkammer entwickelt werden. Dann wurden sie brühwarm herumgezeigt, was immer schon den Charakter einer unerwünschten Immission hatte. Wir erinnern uns mit Schaudern an die berüchtigten „Dia-Abende“, denen man nur mit guter Ausrede entwischen konnte.

Trotzdem hat sich vieles verändert. Tempo, Anzahl und Rastlosigkeit der global umherirrenden Touristen zwängen heute die Urlaubsindustrie in ein atemloses Stakkato. Ob Brauchtum, Natur, Geschichte oder Kunst, alles wird kommerziell zugerichtet, in „Events“ formatiert und per Buchungs-Hotline vertrieben.

Exklusivität gibt es nicht

Einerseits ist es gar nicht mehr so leicht, im Überbietungswettbewerb ein exotisches Reiseziel zu finden, weil es Exklusivität nicht mehr gibt. Selbst Antarktis und Himalaya sind per Pauschalarrangement konsumierbar geworden. Deshalb wird das noch nie Erlebte heute mit viel Aufwand künstlich ersonnen: Man schläft in der Eishöhle, diniert im Baumhaus, frühstückt im Heißluftballon und fährt zum Popkonzert aufs Gebirgsplateau.

Andererseits folgt das Gros der Reisenden nach wie vor gerne dem großen Treck: gefahren wird dorthin, wo alle sind. Da kann man nichts falsch machen. Oder doch? Hotspots wie Venedig oder Hallstatt müssen bereits Platzkarten vergeben. In Hongkong, wo jährlich 40 Millionen Festlandchinesen ankommen, gibt es in den Shopping-Tempeln Blockabfertigung. Salzburg kann man wenigstens nicht per Kreuzfahrtschiff erreichen. Für Busse ist die Aufenthaltszeit trotzdem limitiert.

Die Trolle von Trolltunga

Und dann gibt es noch die „Geheimtipps“, die sich via Instagram und Tripadvisor viral verbreiten. Den Felsvorsprung Trolltunga in Norwegen besucht heute jeder Troll. Die Rue Crémieux in Paris wird nicht nur von der Crème de la crème überrannt. Und Island musste die Schlucht von Fjarárgljúfur wegen Überfüllung sperren, nachdem der Sänger Justin Bieber die pittoreske Formation in einem Musikvideo zeigte. Über Nacht sehen sich solche Orte mit Horden von „Individualtouristen“ konfrontiert, die breite Schneisen des gehudelten Durchreisens in gewachsene Natur- und Kulturlandschaften schlagen.

Muße und Mietsonnenschirm

Exotisch ist heute womöglich nur mehr der Urlaub der Großeltern: 30 Jahre lang nach Jesolo, immer zur selben Zeit ins selbe Hotel. Muße und Mietsonnenschirm statt Must-have-seen. Aber will das jemand? Ist das erstrebenswert? Ist das Erholung?

Fest steht: Was ein gelungener Urlaub ist, lässt sich im Vorhinein und allgemeingültig schwer sagen. Irgendwo zwischen Nichtstun, Hobby und der Kompensation von Alltagsdefiziten suchen wir nach dem Glück. Und machen sehr oft die bekannte Erfahrung, dass sich Zufriedenheit viel leichter nach einem mit Mühe und Arbeit beladenen Tag einstellt als gesättigt und gelangweilt auf dem Handtuch unter Palmen.

Exit aus dem Paradies

Im Urlaubsparadies werden wir solcherart gewahr, dass wir aus dem Paradies längst vertrieben sind. Ohne Fleiß kein Preis: Nur Katzen sind mit einem taten- und datenlosen Tag zufrieden. Der Mensch hingegen ist bekanntlich ein Affe und als solcher genetisch zum ständigen Affenzirkus verdammt. Zum Glück sorgen findige Verkäufer verlässlich dafür, dass wir auch noch im hintersten Winkel der Welt immer irgendwas erledigen, abhaken und ausprobieren können. Und dann natürlich per Statusmeldung verbreiten.