Wir feiern heuer den 250. Geburtstag des Entdeckers Alexander von Humboldt. Woher kommt die anhaltende Popularität?

Andrea Wulf: Er spricht den gegenwärtigen Zeitgeist an. Er dachte interdisziplinär und damit meine ich nicht nur den Botaniker, der auch Zoologie macht. Das ist in Zeiten, wo unsere Erde vom Klimawandel bedroht wird, wichtig. Er ist der fast vergessene Vater des Umweltschutzes. Humboldt war der Erste, der von einem vom Menschen verursachten Klimawandel gesprochen hat.

Sie haben als Biografin den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung des Humboldt-Jahres nach Südamerika begleitet. Was hat er dort für einen Stellenwert?

Wulf: Als ich 2013 das erste Mal in Südamerika den Spuren seiner Forschungsreise folgte, hat es mich total überrascht, dass jedes Kind Humboldt kennt. Das hat viel mit seiner Freundschaft zum Befreier der spanischen Kolonien, Simón Bolívar, zu tun. Es gibt unzählige nach ihm benannte Parks und Schulen – und den Strom.

Ist es richtig, ihn als zweiten Entdecker Amerikas zu feiern?

Wulf: Bolívar selbst hat ihn so genannt. Er hatte auf seinen Reisen mit vielen südamerikanischen Wissenschaftlern Kontakt. Er kam dann mit einem Porträt dieses Kontinents zurück, das sich völlig von dem unterschied, was Europäer zuvor gedacht hatten. In Frankreich sagten Wissenschaftler, dass in der Neuen Welt in Nord- und Südamerika alles schlechter, kleiner und hässlicher sei als in der Alten Welt. Humboldt hat diesen Kontinent dann ganz großartig gezeichnet. Das fing an bei Landschaft und Natur und erstreckte sich bis zu den antiken Zivilisationen. Er hat immer wieder betont, wie hoch entwickelt diese Kulturen seien. In diesem Sinne kann man ihn als den zweiten Entdecker Amerikas bezeichnen.

Hat er das Bild in Europa auch durchgreifend gewandelt?

Wulf: Er hat das ethnografische Interesse an den alten Zivilisationen angestoßen. Bolívar hat zudem betont, dass Humboldt mit seiner Feder den Kontinent selbst aufgeweckt hat. Bolívar hat viele Metaphern aus der Natur verwendet, um seine Leute zum Kampf für die Unabhängigkeit aufzurufen. Etwa: Wir stehen auf einem Vulkan, der gleich explodiert. Das waren Bilder aus Humboldts Büchern.

Er gilt als erster Globalisierer. Lag das daran, dass er in dem nach Offenheit und Aufklärung strebenden Berlin unter Preußenkönig Friedrich II. aufwuchs?

Wulf: Humboldt hat das anders empfunden. Er hat die preußische Gesellschaft als Korsett empfunden. Bis er nach Südamerika ging, war er kränklich, fast Borderliner oder Hypochonder. In Südamerika fühlte er sich gesund und glücklich. Er empfang sein Weggehen aus Preußen als Befreiung und konnte so die Welt mit anderen Augen sehen. Er war aber in anderer Hinsicht ein global denkender Mensch. Humboldt war ein Weltbürger. Das muss man aus der Brille seiner Zeit sehen. Damals kamen die meisten Menschen nicht einmal aus ihrem Dorf heraus und Humboldt reiste schon früh in ganz Europa herum. Er begann damals, die Natur als globale Kraft zu sehen.

Woran machen Sie das fest?

Wulf: Ein markantes Beispiel ist sein Aufstieg auf den Vulkan Chimborazo, was für ihn eine botanische Reise vom Äquator zu den Polen war. Er hat gesehen, wie sich die Vegetationszonen von den tropischen Pflanzen im Tal bis zur letzten Flechte an der Schneegrenze verändern. Er fühlte sich dort an Pflanzen erinnert, die er aus den Alpen, Pyrenäen oder Lappland kannte. Er hat erkannt, dass es globale Vegetations- und Klimazonen gibt, die er dann verglichen hat.

Wie kamen Sie auf die Südamerika-Tagebücher?

Wulf: Als ich im Dezember 2013 mein Manuskript für die Biografie fertighatte, kaufte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Tagebücher, die bis dahin im Privatbesitz waren. Nach der Digitalisierung wurden sie Ende 2014 verfügbar. Das war zu spät für das erste Buch, was inhaltlich aber nicht bedeutsam war, weil es Abschriften gab. Als ich dann aber die echten Bücher gesehen habe, die gespickt sind mit Hunderten Zeichnungen, Tabellen und Karten, wusste ich, dass ich damit mehr machen muss. Die Bücher sind sehr visuell. Das fängt schon damit an, dass Humboldt kleine Zettel daraufgeklebt hat. Man kann viele Seiten ausklappen. Es ist wie eine vielschichtige Wiedergabe seiner Gedanken.

Alexander von Humboldt
Alexander von Humboldt © (c) Julius Schrader

Inwiefern öffnet sich dem Leser eine neue Perspektive?

Wulf: Das Buch zeigt eine ganz andere Tiefe von Humboldts Denken. Er war nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Künstler. Er ist so etwas wie der Vater davon, was wir Infografiken nennen. Mit dem Buch wollte ich dem häufigen Vorurteil entgegentreten, dass Naturwissenschaft nur staubtrockene Archivarbeit ist, die in einem Sachbuch aufgearbeitet wird, sondern farbenfreudig und facettenreich.

Humboldt wird nicht nur verehrt. Können Sie das verstehen?

Wulf: Es macht ihn faszinierend, eine Person mit Fehlern zu sein. Er war unbequem und hatte den Ruf, gerne über Leute zu lästern. Es gab Menschen, die eine Party erst verließen, wenn Humboldt ging. Er redete ohne Punkt und Komma. Das wurde auch schlimmer, je älter er wurde. Und er war es gewohnt, Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein, wenn er den Raum betrat, und hofiert zu werden. Er konnte auch nicht gut mit Frauen.

Alexander von Humboldt in seiner Bibliothek
Alexander von Humboldt in seiner Bibliothek © (c) Getty Images (Heritage Images)

Und seine guten Seiten?

Wulf: Meine Bewunderung kommt daher, dass Humboldt bereit war, seine Ideen auch zu revidieren. Er ging mit 70 Jahren noch in Vorlesungen in die Berliner Universität, um die neuesten Erkenntnisse zu hören. Zudem hatte er ein unglaubliches Gedächtnis und konnte sich auch 50 Jahre später noch genau erinnern, wo er welche Blume gesehen hatte. Und er unterstützte Wissenschaftler und Künstler, die in Schwierigkeiten waren, finanziell oder empfahl sie an den König. Und er war mutig.

Er ist ohne jede Ausrüstung auf den Vulkan gestiegen. Heute würde man so jemanden für verrückt erklären. War das nur wagemutig und abenteuerlustig oder steckte dahinter auch eine gewisse Selbstüberschätzung?

Wulf: Alle Entdecker und Abenteurer haben eine gewissen Hang zur Selbstüberschützung und zum Narzissmus. Humboldt mochte auch Ruhm. Er hat immer wieder Briefe an Freunde geschrieben und dazu gesagt: Das könnt ihr gerne in Zeitungen veröffentlichen. Er hat sich ganz gerne als berühmter Held gesehen. Aber trotzdem schmälert das nicht, was er dort erreicht hat. Ich habe für das ZDF eine Dokumentation für die Sendung „Terra X“ über Humboldt in Südamerika gedreht und bin seinen Spuren nachgegangen. Wenn man dann dort an den Stromstellen des Orinoko steht, denkt man schon, wie unglaublich das ist, was Humboldt in seinem kleinen Kanu gemacht hat. Er war damals ja auch nicht mit einem riesen Team unterwegs wie man da von den englischen Entdeckern kennt, wo Helfer die Betten durch die Wüste getragen haben.

Er hat auch indigene Völker getroffen und auch über Sklaverei geschrieben. Hat er damit etwas angestoßen oder Feindschaften ausgelöst?

Wulf: Nachdem er den Sklavenmarkt in seinem südamerikanischen Ankunftsort Cumaná gesehen hat, wurde er zu einem lebenslangen Gegner der Sklaverei. Er hat auch nie aufgehört, mit Nordamerikanern darüber zu diskutieren. Er hat später Bolivar sehr dafür gelobt, dass er die Abschaffnug der Sklaverei in die Verfassung von Venezuela hineingeschrieben hat. Feinde hat er sich aber in der Kirche gemacht. Humboldt hat stark kritisiert, wie die Missionare die indigenen Völker in Südamerika behandelt haben. Er hat die indigenen Völker anders beschrieben als die meisten Europäer. Nicht als Barbaren sondern als die besten Beobachter der Natur. Das dies die besten Geologen und Geografen seien, die er jemals getroffen hat. Er war fasziniert davon, wie die Indigenen die Natur sehen. Sein Naturverständis hat sich in der Zeit revolutiniert, was bei den Naturvölkern ja Teil der Religion ist. Er selbst war allerdings nicht besonders religiös.