Frühling

Das Jahr 2020 beginnt im März und für mich in Spanien. Dort sind zwar bereits einige Coronafälle verzeichnet worden, aber nicht auffällig viele, nicht mehr als in einwohnerzahlmäßig vergleichbaren Ländern auch. Ich soll in verschiedenen Städten Lesungen und Theater-Workshops für Deutschstudierende abhalten. Als ich in Madrid am Flughafen ankomme, reichen die Deutsch-Lektorin der dortigen Universität und ich einander die Hände. Nein, wir verstehen auch nicht, was da gerade los ist in Italien, muss etwas mit der italienischen Mentalität zu tun haben. Ein wenig beunruhigend allerdings ist es doch, wie oft in den Medien betont wird, dass überhaupt kein Grund zur Beunruhigung bestehe. Ich halte in Madrid die Lesung und den Workshop ab und fahre weiter, nach Salamanca, nach Santiago de Compostela, nach Vitoria-Gasteiz. Dort lese ich abends im Internet, dass die Leipziger Buchmesse abgesagt wird. Die WHO überlegt derweil noch, ob man überhaupt von einer Pandemie sprechen kann. Während des Theaterworkshops am nächsten Morgen werden die Student*innen plötzlich unruhig. Jemand will erfahren haben, dass es einen Coronafall an der Universität gegeben hat, die Lektorin telefoniert hektisch und versichert mir danach, dass die Lesung am Abend noch wie geplant stattfindet, die Uni ist erst ab dem nächsten Tag geschlossen. Ein einziger, todesmutiger Zuhörer kommt. Als ich an meiner letzten Station, Barcelona, ankomme, ist nicht nur Vitoria-Gasteiz, sondern auch Madrid schon im „Lockdown“, der noch nicht so heißt. Die Lektorin in Barcelona ist frohen Mutes, hier sei die Lage ja stabil. Die Hände geben wir uns allerdings nicht mehr. Ich führe noch einen körperkontaktlosen Theaterworkshop und eine Lesung durch, dann hetze ich mit rasendem Herzen zum Flughafen. Was, wenn keine Flüge mehr gehen? Wenn nun auch Barcelona abgeriegelt wird? Aber mein Flug geht, mein Mann holt mich in Wien vom Flughafen ab, und selten bin ich so froh gewesen, wieder zu Hause zu sein.

Was folgt, sind Tage und Wochen der Gerüchte. Und jedes Mal wieder stellen sie sich als wahr heraus: Schulschließungen, Geschäftsschließungen, Ausgangsbeschränkungen – alles ist unglaublich, alles trifft ein.

Auf die erste Schockstarre folgt jedoch die große Einigkeit: Nach Ibiza und nicht enden wollenden Wahlkämpfen geht es jetzt nicht mehr um solchen Pipifax wie demokratische Grundwerte, sondern endlich um Leben und Tod, und wer jetzt nicht einig ist, tötet eine Oma! Man geht für alte Leute einkaufen, musiziert und applaudiert auf den Balkonen, offiziell für die sogenannten „Systemrelevanten“ und inoffiziell für sich selbst, weil man die Krise schon seit ein paar Tagen so gut übersteht. Die Polizei ghettoblastert „I Am from Austria“ durch die Straßen, weil das in einer Pandemie, die naturgemäß weltweit wütet, scheinbar von großer Wichtigkeit ist. „Flatten the curve!“, lautet das Motto, wir sitzen das jetzt zwei, drei Wochen aus und gehen danach gestärkt und als bessere Menschen aus der Krise!

Sommer

Aber dann – passiert einmal lange nichts. Völliger Stillstand. Ich sitze am Schreibtisch und schreibe nicht, weil ich mir zu viele Gedanken mache. Mein Mann sitzt am Küchentisch vorm Firmen-PC und kocht nach der Kurzarbeit Haubenmenüs. Es ist der längste Frühling und der sonnigste, wir ziehen in traurigen Prozessionen um den Augarten herum, die Bundesgärten sind ja gesperrt.

Und gerade, als ich mich an den Gedanken gewöhne, mich niemals wieder weiter als fußläufig von meiner Wohnung entfernen zu können, geht plötzlich alles ganz schnell. Nach und nach öffnen die Schulen, Geschäfte und Gaststätten, pünktlich zu den Sommerferien auch die Grenzen. Das kulturelle Leben beginnt zaghaft, wieder zu existieren, die „Seitenblicke“ kehren ins Fernsehen zurück. Wir haben für den Sommer eine Wohnung in der Nähe von Mariazell gebucht, übrigens lange bevor es gute Staatsbürger*innenpflicht war, Urlaub in Österreich zu machen. Auch, dass der Ort ausgerechnet St. Sebastian heißt, ist reiner Zufall. Ich will dort mein begonnenes Romanmanuskript fertig schreiben und ja, im Nachhinein muss ich zugeben, man hätte diesen Sommer besser nutzen können. Diese kurze Illusion der Normalität, die an Amnesie grenzt, es finden Blasmusikkonzerte statt mit dicht besetzten Biertischen und nicht einmal Kellner*innen tragen den Mund-Nasen-Schutz. Ich hocke die meiste Zeit in der Ferienwohnung und schreibe das Manuskript tatsächlich zu Ende. Immerhin. Mein Mann und ich planen, im Herbst nach Paris zu fahren, indessen geht Israel in den zweiten Lockdown. Aber uns steht das nicht bevor, verspricht die Regierung, sicher nicht.

Herbst

Die Fallzahlen steigen weiter und wir müssen uns eingestehen, dass das heurige Jahr nicht gemacht ist für Disneyland. Wir schwenken um auf Wanderurlaub in Tirol. Einen Tag bevor wir losfahren, wird das Bundesland auf der Corona-Ampel rot eingefärbt. Hektisch versuchen wir in Erfahrung zu bringen, was das für uns heißt. Da wir im Internet nichts finden können, rufen wir Freunde in Tirol an. Die wissen auch nicht, was das jetzt zu bedeuten hat, also fahren wir trotzdem hin und merken, dass es gar nichts bedeutet. Zwei Wochen nachdem wir vom Urlaub zurückgekehrt sind, schließen in ganz Österreich die Hotels. Die Fallzahlen steigen und steigen, plötzlich gibt es auch Betroffene im eigenen Bekanntenkreis, Ärzt*innen schlagen Alarm und die Regierung beginnt einmal Intensivbetten zu zählen. Selbstverantwortung funktioniert nicht, hört man jetzt von allen Seiten, man selbst hält sich ja ausnahmslos an alle Empfehlungen, aber die anderen! Gerüchte über einen erneuten Lockdown werden laut, die Regierung dementiert in zahllosen Pressekonferenzen, und dann kommt der zweite Lockdown. Diesmal bleibt die Schockstarre aus, man hat ihn ja erwartet. Und weil man ihn schon erwartet hat, setzt auch dieser Kitzel des Neuen, Gefährlichen nicht mehr ein. Man ist genervt, und mehr noch: hoffnungslos. Der lange Frühling voll Verzicht und Einigkeit hat nicht gereicht, um dieses Problem aus der Welt zu schaffen, niemand redet mehr von „Flatten the curve“, auch der längste Winter wird dazu nicht ausreichen. Als Wunderwaffe wird uns die Impfung in Aussicht gestellt, nur noch ein bisserl durchhalten und dann noch ein bisserl, aber so wirklich vertraut keiner mehr den Versprechungen. Die meisten sehnen sich wieder den Frühling zurück, da ist man sich wenigstens noch einig gewesen, wärmer war’s auch.

Winter

Ich bin wohl eine der ganz wenigen Personen, die diesen zweiten (oder dritten?) Lockdown erträglicher finden als den ersten. Es ist doch immerhin eine vertraute, beinahe alltägliche Situation: Das Volk schimpft auf die Regierung, Sebastian Kurz schimpft auf die Ausländer und die Grünen sind irgendwie auch noch da. Alles wie immer also. Und bei dieser Kälte gehe ich sowieso nicht freiwillig vor die Tür.

Ja, es ist zu befürchten, dass dieses Jahr 2020 noch weit in den nächsten Frühling hineinreichen und uns nicht als bessere Menschen entlassen wird. Aber zumindest heißt der US-Präsident jetzt nicht mehr Donald Trump, und das allein ist schon ein Grund, auch heuer an Silvester wieder die Korken knallen zu lassen. Nur im allerengsten Familienkreis, natürlich.