Ja, das Jahr war anstrengend. Aber ja, das Jahr und seine Lockdowns hatten auch etwas Gutes - und ich denke jetzt nicht an digitale Kaffeekränzchen und reale Bananenbrot-Exzesse in den eigenen vier Wänden. Vielmehr an die großartige Musik, die Künstler in der Zeit des Rückzuges geschaffen haben. Eine Auswahl von Liebingsliedern fällt deshalb gerade heuer schwer. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Hier gibt es alle Titel zum Nachhören.

Phoebe Bridgers - Garden Song

Ich sag's gleich: Song des Jahres. Obwohl auch andere Lieder von Phoebe Bridgers zweitem (und hochgelobtem) Album "Punisher" hier stehen könnten. Es sind Lieder, in denen der Zweifel regiert - auch musikalisch: Indie-Rock wechselt sich mit vibrierenden Balladen ab. Gefüttert wird der Longplayer mit tiefgehendem und gleichzeitig unmittelbarem Songwriting. In "Garden Song" widmet sich Bridgers wie so oft ihren Träumen. Ihre weiche Stimme wird dabei von einem unaufdringlichen Gitarrensound getragen. Den Hörer begleitet dabei stets der lyrische Zweifel der Amerikanerin. Man taucht in ein Labyrinth ein, durchwandert es und steht zum Schluss vor dem Beginn einer Reise durch ein wunderbar unschlüssiges Album. Kein Punishment, sondern ein Ausbruch aus der popkulturellen Routine.

Haim - The Steps

Die drei Schwestern von "Haim" haben mit "The Steps" einen warmen und hellen Song aufgenommen, der viel mehr ist als ein Ausflug in den Sommer. Die treibenden Gitarren, der coole Dreigesang und der Retro-Classic-Rock-Sound überdauern locker dieses Jahr. Die einfachen Harmonien gehen ins Ohr und in die tanzwütigen Füße. Dabei geht es gar nicht um die unbeschwerte Liebe, sondern um eine verkappte Beziehung. "I can't understand, why you don't understand me" wurde noch nie unbekümmerter vorgetragen. 

The Antlers - It Is What It Is

"It Is What It Is" ist ein Song über Rückblicke. Es geht darin um die widerwillige Akzeptanz von Dingen, die man in der Retrospektive gerne anders gehandhabt hätte. Es geht ums Scheitern im Kopf. Punkt. Aber: "Diese Momente fühlen sich zunächst wie ein Verlust an, mit der Zeit können sie für Wachstum stehen", erklärt Sänger Peter Silbermann. Im Song werden "diese Momente" mit einem Saxofon, der zarten Stimme Silbermanns und schweren Lyrics herbeigerufen: "This is the first day our friend is free from pain. Voyaging on while the rest of us remain". Ist halt so, kann man nix machen.

Bright Eyes - Dance And Sing

Was für ein Lebenszeichen. Neun Jahre lang pausierte die Indiefolkband Bright Eyes von Mastermind Conor Oberst. Heuer legte sie mit „Down in the Weeds, Where the World Once Was“ ein Schmuckkästchen vor. Bespickt ist es mit Songperlen, die Oberst mit bekannt brüchiger Stimme vorträgt. Das hört sich nach den alten Bright Eyes an. Doch schon früh im Album überrumpelt die Band mit "Dance and Sing" den Hörer: Streicher und Flöte gesellen sich zu dem gewohnten Gittarrensound. Der lyrische Weltschmerz von Oberst bleibt indes der gleiche und überlagert alles. Es muss ja nicht alles neu gedacht werden.

Matt Berninger - One More Second

The National-Frontmann Matt Berninger bleibt, ähnlich wie Conor Oberst, seiner textlichen Linie auf dem Solo-Debüt "Serpentine Prison" treu: „Ich wollte einfach eines dieser klassischen, einfachen, verzweifelten Liebeslieder schreiben, die im Auto großartig klingen." Daraus geworden ist die Single "One More Second", die allein durch Berningers Stimme das Auto vibrierend lässt, obwohl der Motor gar nicht läuft. Das Benzin in Form von Erkenntnissen a la "Give me one more year to get back on track" lässt das Melancholie-Werkl laufen.

Sophie Meiers - Better For You

Die Welt von Soundcloud-Künstlerin Sophie Meiers ist bunt, chaotisch und schrill. Das hört man "Better For You" zwar nicht an, wer sich jedoch auf die Spuren von Meiers begibt, endet bald in einem musikalischen Potpourri aus Pop, R'n'B und eben Indie-Rock. Sollte also "Better For You" nicht munden, findet sich sicherlich ein anderes Stück nach Geschmack.

Waxahatchee - Lilacs

"Lilacs" klingt wie der bevorstehende Frühling. Allein der Hall darin erdet die Stimme von Sängerin Katie Crutchfield und läutet ein unerwartetes Tauwetter mitten im Winter ein. Ein folkiger Gitarrensound führt beschwingt durch eine Landschaft, in der zwar die verwelkten Blumen aus dem Frühjahr darniederliegen, aber schon erste Sprossen aus dem Boden sprießen. "I'll fill myself back up like I used to do", singt Crutchflield stimmig. Die warmen Temperaturen können also kommen.

Everything Everything - Violent Sun

Die Briten pumpen ordentlich in "Violent Sun". Während Albumgeschwisterchen "Big Climb" mit einem großartigen Refrain und einer von Everything Everything gewohnt komplexen Songstruktur daherkommt, ist "Violent Sun" treibender, stringenter. Sänger Jonathan Higgs singt zwar mit seinem Falsettorgan über mentale Probleme, die Leichtigkeit der Gitarren verleiht dem Lied jedoch etwas Lebhaftes und Erfrischendes. Wo bleibt jetzt der verdammte Frühling?

Fleet Foxes - Sunblind

Obwohl "Sunblind" eine Ode an die Verstorbenen ist, verfällt es nie in Melancholie. Im Gegenteil, es nimmt den Hörer an der Hand und verleitet dazu, ins "warm american water" zu springen um mit "dear friends" zu schwimmen. Im Fall von Fleet-Foxes-Frontmann Robin Pecknold sind es verstorbene Größen wie Richard Swift, Judee Sill und Elliott Smith. Tipp: Der leichtfüßige Folk eignet sich gut zum Durch-Die-Wohnung-Tanzen. Wurde schon ausprobiert, funktioniert jedes Mal.

Soccer Mommy - Circle The Drain

Sie gehört zu einer jungen Generation von Singer-Songwriterinnen, die seit ein paar Jahren die größte Hoffnung des Indieversums ist. Wer Snail Mail, Lucy Dacus oder Phoebe Bridgers nennt, muss auch Soccer Mommy in diese Liste aufnehmen. Die warme Vertrautheit ihrer Songs modelliert Soccer Mommy aus hellen Pop-Rock-Hits ihrer Jugend. Sie  versetzt einen dabei selbst zurück in eine Zeit, in der die Schulbank gedrückt und "Tony Hawk's Pro Skater" auf der Playstation 2 gezockt wurde.

Perfume Genius - On The Floor

Es ist Pop, der mit Zerbrechlichkeit, Maskulinität und einem Schuss glitzernder Dunkelheit auskommt. Perfume Genius erinnert mit "On The Floor" an Methyl Ethel oder BORNS. Und daran, dass die schweren Tage vorbei sind. Es regiert wieder der sich überstürzende Pop mit Ohrwurm-Charakter. Nur, dass dieser nachhaltiger erscheint als jener von den genannten Kollegen ein paar Zeilen weiter oben. Es sind dann doch ein paar Widerhaken in "On The Floor" auszumachen.

Taylor Swift (feat. The National) - Coney Island

Normalerweise ist man ja als musikalischer #Querdenker skeptisch, wenn ein Hype ausgerufen wird. Jener, der von Taylor Swift mit ihren beiden Alben "Folklore" und "Evermore" 2020 losgetreten wurde, ist indes berechtigt. Believe the hype! Das führt soweit, dass in Freundeskreisen jeder ein eigenes Swift-Lieblingslied aus diesem Jahr hat. Nachhaltig schön ist sicherlich das Duett "Coney Island" mit Matt Berninger. Es geht um Trennung und Schmerz, die sanft in eine weiche Soundlanschaft gebettet werden. „Did I paint your blue skies the darkest grey?": So schön kann Scheitern klingen.

Bonus Track: The Weakerthans - Plea from A Cat Named Virtute

Zugegeben, dieses Lied stammt aus dem Jahr 2003. 2020 war es jedoch ein Ankerpunkt, zu dem man gerne zurückgekehrt ist, um nach kurzer Erfrischung wieder eine Expedition in die Klangäther von Spotify und Co. zu unternehmen. Allein die durch und durch sympathischen Weakerthans mit ihrem grandiosen Songwriting sind schuld daran, dass so manche unbekannten Türen heuer aufgestoßen wurden. "Plea from A Cat Named Virtute" ist aus der Sicht einer Katze geschrieben, die ihrem Besitzer vermitteln will: Komm, Arsch hoch, Vorhänge weg und raus aus der Wohnung mit dir. Ein guter Vorsatz für 2021 und ein noch besserer Vorschlag im Jahr 2020.