Julia ist 15 und besucht das Gymnasium, als ihre Suizidgedanken so massiv werden, dass sie stationär in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen werden muss. Sie ist verzweifelt, hat starke Schulängste, fühlt sich isoliert und ist unzufrieden mit dem eigenen Körper. Da es ihr zwei Tage nach der Aufnahme ein wenig besser geht, muss sie zurück nach Hause – denn für einen längerfristigen Aufenthalt gibt es derzeit keine Plätze. Die Wartezeit beträgt fünf bis neun Monate. Professionelle Betreuung bis zu ihrem stationären Aufenthalt wäre also dringend notwendig. Für einen Ersttermin beim Facharzt beträgt die Wartezeit allerdings drei bis vier Monate, für einen Therapiekassenplatz sechs bis 18 Monate.

Die Eltern sind verzweifelt, Julia wird immer stiller. Erst nach fünf Monaten ist es schließlich möglich, Julia für längere Zeit stationär aufzunehmen. Sie hat mittlerweile bedenkliches Untergewicht, verletzt sich selbst, kann nicht mehr zur Schule gehen und hat starke soziale Ängste entwickelt. Auch die jüngeren Geschwister zeigen bereits erste Auffälligkeiten.

Keine Ausnahme, schon fast die Regel 

"Fälle wie dieser sind keine Seltenheit", sagt Kinder- und Jugendpsychiaterin Judith Noske im Rahmen einer Pressekonferenz der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Durch die lange Wartezeit auf adäquate Behandlung bestehe die große Gefahr auf Chronifizierung von psychischen Erkrankungen, die sonst könnte verhindert werden. "Auch für das Personal ist diese Situation eine sehr belastende Herausforderung, weil man ständig unter Druck ist, eine verantwortungsvolle Triage durchzuführen." Immer mehr fokussiere sich die Arbeit auf Krisenaufnahmen für ein bis drei Tage, wenn eine akute Gefährdungssituation vorliegt.

Schon vor der Coronapandemie war die Situation hinsichtlich der Versorgung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen in Österreich eine schwierige. Die letzten Jahre haben das aber noch verstärkt. Aktuellen Erhebungen aus Österreich zufolge leidet rund jedes dritte Kind unter psychischen Beschwerden – häufig sind es Depressionen, Ängste und Essstörungen. In Österreich wiesen im Februar 2021 55 Prozent der Jugendlichen depressive Symptome auf, 47 Prozent Angstsymptome, 22,8 Prozent Schlaflosigkeit und 59,5 Prozent ein gestörtes Essverhalten.

Kathrin Sevecke, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie meint dazu: "All diese Erkrankungen gehen mit einer Vielzahl an Symptomatiken einher und daher liegt bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen immer mit einer hohen Krankheitslast vor." Das politische Ziel sei schon länger eine Vollversorgung für Kinder- und Jugendliche zu gewährleisten – diese Vollversorgung ist aber in Österreich derzeit nicht möglich – 50 Prozent der benötigten Betten fehlen, auch Kassenplätze sind zu wenig vorhanden (siehe auch Infobox). Besonders für sozial schwächer gestellte Familien fehlen daher auch Versorgungsmöglichkeiten.

Es braucht dreimal so viele Kassenstellen

Wichtig sei es, diese Lücke in der Versorgung zu schließen, "sonst produzieren wir chronisch kranke Erwachsene", sagt Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Krönke. Um das zu verhindern, brauche es laut dem niedergelassenen Arzt dreimal so viele Kassenstellen und dreimal so viele Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Wichtig sei es daher auch, mehr Menschen in die Ausbildung zu bringen, damit das nötige Personal überhaupt vorhanden sei. Und: "Durch die stationären Mängel (Anm. zu wenigen Plätze), stauen sich die Schwerkranken zurück zu uns in den niedergelassenen Bereich. Unsere Telefone rennen ununterbrochen heiß."

Dass die Zahl der psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen derzeit so stark zunimmt, sei laut den Experten auf mehrere Faktoren zurückzuführen: Gesellschaftliche Veränderungen und die generelle Verunsicherung in der Gesellschaft spielen dabei eine zentrale Rolle. Aber auch die Pandemie, der Krieg und die zunehmende Armutsgefährdung wirken sich negativ auf die Psyche junger Menschen aus. "Für einzelne Familien wird es immer schwerer, ihren Kindern sichere Entwicklungsbedingungen anzubieten", sagt Noske.

Auch am Personal geht diese Situation nicht spurlos vorbei: "Alle sind erschöpft und können nicht mehr. Und es ist zu erwarten, dass sich am hohen Bedarf an psychiatrischer Unterstützung für Kinder und Jugendliche so schnell nichts ändert. Wir brauchen also Lösungen, die einerseits den jungen Menschen die bestmögliche Versorgung garantieren und gleichzeitig die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Berufsfeld halten bzw. es schaffen, neue dazuzugewinnen."