Liebe das Leben, glücklich altern, das klingt ja alles verheißungsvoll: Aber wie können Alters- und die Kinder-/Jugendpsychiatrie die Menschen dabei unterstützen? 

AIDA KULJUH: Kinder haben Eltern und Großeltern. Das eine geht also ohne das andere nicht. Wir arbeiten – im Unterschied zu Kollegen – zusammen, weil es den Menschen hilft, wenn wir zwischen Generationen vermitteln. 
ALEXIS MATZAWRAKOS: Es sind jene Lebensabschnitte, die am spannendsten und herausfordernsten sind. Und sie hängen zusammen. Je besser wir auf unsere Kinder schauen, desto weniger Schwierigkeiten gibt es dann im Alter. Denn sie schauen dann gut auf uns – und sind selbst für ihr eigenes Altern besser gewappnet. 

KULJUH: Die Rollenbilder wiederholen sich ja, von Generation zu Generation, also transgenerational. Ich arbeite familientherapeutisch, ich binde Eltern genauso wie Geschwister und Großeltern ein, wenn ich Kinder behandle.
MATZAWRAKOS: Ein bisschen bekommen die Eltern ihren Erziehungsstil zurück, wenn sich die Rollen umkehren, Eltern ins hohe Alter kommen und Pflege brauchen.

© (c) Juergen Fuchs (FUCHS Juergen)

Wie kann man trotzdem glücklich alt werden?

MATZAWRAKOS: Eine einzige Generation kann das Wiederholen der Geschichte durchbrechen. Man stellt sich etwa einer Psychotherapie, dann verändern sich die Voraussetzungen. Die Kriegsgeneration hatte zum Beispiel einen ganz schlechten Start ins Leben: nicht gewollte Kinder, weggegebene Kinder, Kinder in Heimen. Viele haben es geschafft, trotzdem ein erfülltes Leben zu leben, etwa durch eine intakte Familie, durch ein intaktes Umfeld. Aber im Alter, wenn die ganzen schützenden Strukturen und Bewältigungsstrategien wegfallen, dann kommen die alten Gefühle wieder hoch. Wenn ich damals als Kind in ein Leben gekommen bin, in dem mich keiner wollte, und ich jetzt höre: die Überalterung, die Alten kommen mit dem Wandel nicht mit, sie sollen ins Heim. Man empfindet, dass man nichts wert sei. Die Kinder sind irgendwo, der Job ist weg, Freunde und Arbeitskollegen sterben. Und jetzt soll der alte Mensch ins Heim, in das er schon als Kind abgeschoben worden ist. Ich betreue zwei Heime in Graz: Meine erste Frage ist: Sind Sie gerne ins Heim gekommen? Mit der Antwort weiß ich alles.

KULJUH: Ich versuche zu verhindern, dass die Kinder und Jugendlichen über lange Zeit schlechte Erfahrungen machen. Das ist das größte Problem. In der Zeit, in der die Kinder über positive Bindungserfahrungen zum Beispiel Emotionsregulierungen lernen sollen, kommt es oft zu Bindungsabbrüchen, die zu großen Schäden im psychischen Apparat führen. Dadurch können wichtige Schutzfaktoren nicht entstehen, die wir für ein glückliches Altern brauchen. Diese verwundeten Menschen können dann keine dauerhaften Bindungen aufbauen. Aber für das glückliche Leben ist eine gute Bindungserfahrung notwendig. Das brauchst du für alles, im Job wie im Privatleben. Wenn du das nicht hast, holst du das schwer nach, dafür brauchst du eine andere Erfahrung, eine andere Bezugsperson – oder eine Therapie.

Beginnt die Bindungs­erfahrung nicht schon in der Schwangerschaft?

MATZAWRAKOS: Das ist wissenschaftlich bewiesen.
KULJUH: Stress und dadurch ausgeschüttete Stresshormone in der Schwangerschaft – etwa wenn man das Kind nicht will – können Folgen für die Bindungsfähigkeit verursachen. Die ersten zwei, drei Jahre sind die wichtigsten in der Entwicklung. Wenn das Kind am Beginn seines Lebens nicht die adäquaten, notwendigen Reaktionen der Eltern bekommt, wird es schwierig. Der Weg, das zu verarbeiten, ist dann lang und von Niederlagen begleitet.
MATZAWRAKOS: Ein Kind braucht mehrere stabile Bindungspersonen. Ich muss als Kind erfahren haben, dass ich willkommen bin auf dieser Welt. Das Gefühl muss da sein, das hilft mir ein ganzes Leben. Dann gehe ich auch leichter ins Alter, dann habe ich das Urvertrauen, dann finde ich mich auch leichter etwa mit einer Demenzerkrankung ab. Wenn ich Urvertrauen habe, weiß ich: Irgendwer wird mir schon helfen, egal was passiert, meine Kinder werden darauf schauen, wenn ich in ein Heim gehen muss, die Freunde, Verwandten werden darauf achten, dass ich in ein gutes Heim komme. Dann fällt ein wichtiger Faktor weg: Angst, das Standardthema in der Demenz. Wenn genug Beziehung da ist, genügend Urvertrauen, dann kann ich leichter loslassen, selbst als Demenzkranker. Es gibt auch die glücklichen, in sich zufriedenen Demenzkranken. 

Wie ergeht es Kindern, wenn Rollenbilder vertauscht werden, wenn Eltern hilflos wie kleine Kinder sind?

Die Rollenumkehr kommt unweigerlich. Die Frage lautet: Gelingt mir das mit möglichst wenig Bevormundung oder nicht? Standardthema bei uns ist auch die lange ungeliebte Schwiegertochter, die plötzlich pflegen muss. Der Sohn hat den Plan, er lässt sich das Haus überschreiben, die Schwiegertochter pflegt. Toller Plan, aber es hat niemand gefragt, es ist nie darüber geredet worden. Das kann nicht funktionieren, das gehört besprochen, umstrukturiert. Auch die Altersbilder sind ein spannendes Thema, was erwarte ich mir vom Altwerden?

© (c) Juergen Fuchs (FUCHS Juergen)

Wie kann man diese Rollen­bilder verändern?
MATZAWRAKOS: Wir haben ja keine schönen Bilder vom Altwerden. Und dann kommen die gesellschaftlichen Fragen: Müssen die Jungen alles aufgeben für die Alten? Das gehört alles thematisiert, therapeutisch bearbeitet, um es zu verstehen. Ich habe eine Gesprächsgruppe alter Menschen, mit denen ich seit zehn Jahren arbeite. Sie sind in der Zwischenzeit älter geworden, haben noch mehr Verluste an Gesundheit, an Möglichkeiten erlitten. Aber sie gehen heute entspannter damit um, weil sich ihre eigenen Altersbilder verändert haben. 
KULJUH: Durch positive Erfahrungen über schöne Begegnungen mit älteren Menschen. Ich zum Beispiel pflege einen transgenerationalen Freundeskreis. Ich finde auch die Idee von Mehrgenerationenhäusern faszinierend. Um zusammen zu leben oder sich zu begegnen. 
MATZAWRAKOS: Ich habe zum Beispiel eine Begegnung zwischen leicht depressiven älteren Menschen und Kindern initiiert. Den Älteren ist es nachher besser gegangen, die Kinder haben besser verstanden. Es war plötzlich Solidarität da, es war plötzlich Thema, dass man auf die Älteren schauen, dass man Rücksicht aufeinander nehmen muss.

Welche transgenerationa­len Erfahrungen waren für Sie prägend?

KULJUH: Ich komme aus Bosnien, die Generation meiner Großeltern war damals schon qualvollen Geschehnissen ausgesetzt. Was ich so beeindruckend gefunden habe, war, dass sie unglaublich liebevoll waren, vor allem in Bezug auf die Kinder. Sie haben darauf geachtet, dass der Tag geschmückt ist mit schönen Erlebnissen. Kochen, einen Tisch decken zum Beispiel. Meine Familie musste 1992 vor dem Krieg flüchten. Ich erinnere mich da an eine Szene: Wir sind weit weg von zu Hause, und mein Großvater sagt plötzlich: „Komm her, ich bring dir jetzt das Schachspielen bei. Aus dem Nichts hat er etwas Schönes gemacht, so als ob nichts wäre. Ich sagte sinngemäß zu ihm: „Hallo, siehst du nicht, was wir gerade erleben, wie schwierig es ist?“ Er hat mir nur gesagt: „Ich bin schon einmal geflüchtet, ich war zu Fuß unterwegs, auch das geht vorbei.“ Die Großeltern haben mir als Zwölfjähriger in meiner schwierigen Lebenssituation die Zuversicht gegeben, dass jede Situation zu bewältigen ist. Die sind nicht verzweifelt oder ausgestiegen. Mit dieser Erfahrung komme ich in meinem Leben immer weiter, stehe nach jeder Niederlage auf und sehe die Welt positiv.
MATZAWRAKOS: Es gibt eine Untersuchung, dass Menschen, die mit Älteren arbeiten, eine signifikant bessere Erfahrung mit den Großeltern hatten. Auch ich hatte diese Erfahrung, meine Oma zum Beispiel hat mir gezeigt, wie man mit dem Älterwerden umgeht.

Welchen Werten sollte man für ein erfülltes Leben Bedeu­tung schenken?
KULJUH: Für die Erziehung sind Feinfühligkeit, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit wichtig. Mit dem Fokus auf Kommunikation, einfühlsame Bindung und Förderung der Selbstständigkeit. Wenn ich als Elternteil meine Gefühle im Griff habe, kann ich viel besser auf mein Kind eingehen, und das kann man lernen. Das sind ganz wichtige Punkte für ein gutes Leben. Gute Bindungen sind auf dem Weg zum Glück wichtiger als Geld verdienen. Es geht außerdem immer um eine offene, ehrliche, wohlwollende Kommunikation.
MATZAWRAKOS: Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Selbstverwirklichung, Mitverantwortung und bewusst angenommene Abhängigkeit sind entscheidend. Einer der Punkte, wenn die Behandlung von Demenzkranken funktionieren soll, ist, dass sie mitbestimmen können. Und, grundsätzlich: Wir wollen ja ein Gesellschaftswesen sein, teilhaben.
KULJUH: Wir versuchen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie die Autonomieentwicklung, die schon mit zwei bis drei Jahren beginnt, zu unterstützen. Für die Eltern bedeutet das: in Kontakt treten, begegnen, heraus- finden, was die Kinder wollen. Kinder wissen oft, was sie brauchen. Kinder können es einfach sagen, man muss sich die Zeit nehmen, man sollte einmal in der Woche einen Familienrat machen mit den Kindern, da wird alles demokratisch besprochen. Man sollte die Autonomieentwicklung ermöglichen und begleiten und keine Angst haben: Kinder kommen ja immer wieder zurück, um sich zu vergewissern. Die Kinder sind sehr wertschätzend, wenn sie die gute Absicht der Eltern spüren.
MATZAWRAKOS: Aber sie kommen nur dann zurück, wenn sie das spüren. Das gilt übrigens für das ganze Leben und nicht nur für die Kinder. 

Was können Kinder von den Älteren lernen und um­ gekehrt?
MATZAWRAKOS: Lebensfreude kann man von den Kindern lernen. Die Älteren kann man auf die Verantwortung aufmerksam machen, die sie als Vorbild haben. Auch wenn es nicht meine eigenen Kinder oder Enkerln sind, diese Begegnungen vermitteln einem unbewusst schon, dass es weitergeht mit den Generationen.
KULJUH: Was mich so fasziniert an Begegnungen zwischen Kindern und alten Menschen: Sie können im Hier und Jetzt sein. Wenn ich als Kind mit dir spiele und du bist 80, dann bin ich nur hier, nicht in der Schule oder beim Frühstück, ich bin ganz bei dir. Und als Kind bei mir. Und das kann diese Glücksmomente hervorbringen, weil sie einfach Spaß haben miteinander. Und Spaß ist sehr viel wert. Das Glücksgefühl ist eine Art Antidepressivum und wirkt gegen Angst. Die Angst kann ja sehr quälend sein, da geht es oft um die Fähigkeit zur Kommunikation. Warum ist es so schwierig, in der Sprache der anderen zu denken? Eltern können oft nicht so denken wie Kinder.

Das Leben ist letztlich eine Achterbahn: Warum fällt es Menschen oft so schwer, Bi­lanz über ihr Leben, über ihr Tun zu ziehen?
KULJUH: Bei den Eltern gibt es für mich einen wichtigen Punkt: ihnen zu helfen Schuldgefühle zu überwinden, damit sie Kinder mit Leichtigkeit erziehen können.
MATZAWRAKOS: Schuldgefühle sind dabei definitiv ein großes Thema. Im zunehmenden Alter zieht man eine Lebensbilanz, man denkt mehr nach: Warum hat die Ehe nicht geklappt, warum war ich im Beruf nicht glücklich, warum habe ich so wenig Kontakt zu den Kindern? Man muss die Bilanz genauer anschauen, man muss auch die andere Seite sehen, es ist ja nicht alles nur schlecht gelaufen. Aber viele sehen das in ihrer Einengung so. Wir sollten alten Menschen so begegnen, als ob wir die letzte Chance für sie wären, und uns bemühen. Wir sollten sie beim Bilanzieren unterstützen. Dann geht es vielleicht auch leichter mit dem Sterben.